Ausgerechnet die Videokonferenz-App Zoom wollte Schriftsteller Ilija Trojanow für das Interview mit dem STANDARD nutzen. Sein Argument: Die Chinesen dürften ruhig mitlauschen, wenn es um das Thema Überwachung geht. Die Redaktions-IT hatte dann doch etwas dagegen. Das Gespräch fand also über das Festnetztelefon statt.

STANDARD: Die Leute bleiben zu Hause, weil es die Regierung verlangt, sie tragen Masken, weil es die Regierung will, die Geschäfte sind geschlossen, weil es die Regierung beschlossen hat – wie sehen Sie diese Entwicklung?

Trojanow: Die Frage ist, muss man die Autorität der Regierung in den Mittelpunkt stellen oder kann man sich ein anderes gesellschaftliches Modell vorstellen? Auf gewisse Regeln kann sich eine Gesellschaft doch sicher verständigen – etwa auf einen gewissen Abstand, eine gewisse Hygiene. Wieso muss das von oben herab, hierarchisch kontrolliert, ablaufen?

"Die meisten sind von Haus aus mitfühlend, solidarisch. Wir müssen nicht dazu verdammt werden, wir wollen es": der Schriftsteller Ilija Trojanow über die Corona-Maßnahmen.
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STANDARD: Jetzt läuft es während der Corona-Krise aber fast überall mittels Vorgaben. Wie weit darf ein Staat gehen beim Versuch, eine Pandemie einzudämmen?

Trojanow: Was mich stört, ist, dass der Staat das allein entscheidet. In einer wirklich demokratischen Gesellschaft gibt es andere Wege. Nehmen wir zwei Extrembeispiele: China und Taiwan. China setzt natürlich nur auf Kontrolle und Überwachung. Taiwan hat auf Freiwilligkeit und Selbstverantwortung gesetzt und ist damit bisher das erfolgreichste Land bei der Bekämpfung der Pandemie. Es ist auch digital sehr weit voraus. Dass der Staat die Bevölkerung zu irgendetwas zwingen muss, ist ein autoritäres Konzept – unter der Annahme, dass es ohne dieses Vorgehen keine Einsicht bei der Bevölkerung gibt. Aber die meisten sind von Haus aus mitfühlend, solidarisch. Wir müssen nicht dazu verdammt werden, wir wollen es.

STANDARD: Die Bilder aus den Parkanlagen in Wien zeigen aber etwas anderes ...

Trojanow: Dadurch lässt sich ja keine verlässliche Zahl an Menschen errechnen, denen das völlig egal ist. Wir erleben in einer solchen Situation zudem einen Balanceakt zwischen notwendiger Vorsicht und einer sich anbahnenden Hysterie.

STANDARD: Aber der taiwanesische Weg ist doch nicht auf Europa übertragbar.

Trojanow: Selbstverständlich wäre ein solches Vorgehen auch bei uns möglich. Wir haben nur eine katastrophale Haltung zur digitalen Revolution. Große Teile der Bevölkerung wissen überhaupt nicht, welche Gefahren es dabei gibt, sie verschenken wahllos ihre Daten – etwa an Großkonzerne wie Facebook – und machen sich zu gläsernen Bürgerinnen und Bürgern. Selbst die Datensicherheit ist in Taiwan meiner Ansicht nach besser ausgeprägt.

"Der Grundzustand muss sein: Der Staat darf mich keinesfalls kontrollieren. Eine Pandemie ist aber eine Ausnahmesituation, und für die gelten andere Regeln", sagt Trojanow.
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STANDARD: Wenn Sie sagen, dass wir digitales Hinterland sind: Jetzt gibt es eine Handy-App in Österreich, die Wege und Kontakte der Nutzer sammelt. Würden Sie die benutzen?

Trojanow: Das hängt davon ab, wie weit die Anonymisierung gesichert ist. Da verlasse ich mich auf die Fachleute. Aufgrund der Komplexität und der technischen Unzugänglichkeit der Materie sind wir wirklich völlig angewiesen auf unabhängige Fachleute, die das kontrollieren.

STANDARD: Auch wenn die jetzt Unbedenklichkeit attestieren, man könnte sich sorgen, was sich daraus entwickeln kann.

Trojanow: Diese Bedenken habe ich seit 20 Jahren. Der Grundzustand muss sein: Der Staat darf mich keinesfalls kontrollieren. Eine Pandemie ist aber eine Ausnahmesituation, und für die gelten andere Regeln. Das Entscheidende ist doch, dass der Staat einen Zugriff auf Daten, der einmal gewährt wurde, freiwillig zurücknimmt. Da sind wir jetzt beim Grundproblem aller Formen von Überwachung: In Krisenzeiten kommt es sehr schnell zu einer Erweiterung der Befugnisse. In der Phase danach wird das aber nur extrem selten rückgängig gemacht. Das haben wir schon bei der Bekämpfung des Terrorismus erlebt. Das einzumahnen, da ist die Zivilgesellschaft gefordert.

STANDARD: Aber mehr oder weniger wird doch alles mitgetragen, was der Staat verordnet. Wie stark ist diese Zivilgesellschaft?

Trojanow: Sie übertreiben. Es gibt durchaus viele Leute, die kritisch sind. Es war immer so, dass die Mehrheit der Bevölkerung den Status quo bedenkenlos trägt. Zivilgesellschaft heißt ja nicht die Mehrheit der Gesellschaft, sondern bedeutet: eine kritische Masse an widerständigen, selbstständig denkenden, alles hinterfragenden Bürgerinnen und Bürgern. Die gibt es.

Gesperrte Spielplätze sind nur ein Teil von vielen, vielen Maßnahmen – Schriftsteller Trojanow fragt sich grundsätzlich, "wieso muss das von oben herab, hierarchisch kontrolliert, ablaufen?"
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STANDARD: Und die Rolle der Medien?

Trojanow: Gerade wird der Unterschied zwischen seriösen Medien und dem ganzen Lärm, den Nebelwerfern in den sozialen Medien, besonders deutlich. Die Zuverlässigkeit der Information bekommt bei einer Pandemie noch größere Bedeutung als im normalen politischen Diskurs, weil es teilweise eine Frage von Leben und Tod ist.

STANDARD: Das klingt so, als ob Sie dem Ganzen auch etwas Positives abgewinnen können.

Trojanow: Es gibt sehr viel Positives! Menschen in Krisen stellen grundsätzliche Fragen – etwa: Funktioniert unser System so, wie es ist? Ein System des Individualismus, der Gier. Wieso wird gerade – wenn auch nur überwiegend rhetorisch – Solidarität eingefordert? Es ist eben offensichtlich, dass solche Phasen nur mit Empathie und Gemeinschaftlichkeit bewältigt werden können, nicht mit dem freien Markt und dem Profitstreben.

STANDARD: Glauben Sie wirklich, dass sich am Wirtschaftssystem etwas ändert?

Trojanow: Davon bin ich überzeugt. Wir reden natürlich nicht vom Jahr 2021. Was wir derzeit erleben, ist eine völlige Demontage einer auf Wachstum basierenden Wirtschaft. Schon die Tatsache, dass, wenn einen Monat lang nicht gearbeitet, produziert oder konsumiert wird, Panik und Hysterie aufkommt.

STANDARD: Die Antwort könnte doch auch lauten: noch mehr Wachstum.

Trojanow: Das wäre kein besonders rationales Argument, wenn wir festgestellt haben, dass unser System daran krankt, dass es völlig abhängig vom Wirtschaftswachstum ist. Das ist ungefähr so, wie wenn Sie einem Drogensüchtigen sagen, er soll jetzt die doppelte Dosis nehmen. Das kann zum Tod führen. Wir müssen uns von diesem auf Dauerkonsum und Verbrauch, auf Vernichtung der Natur basierenden System abwenden.

STANDARD: Sie haben mit Ihrer Schriftstellerkollegin Juli Zeh 2009 ein Buch über Überwachung geschrieben. Damals galten Sie beide eher als Hysteriker, oder?

Trojanow: Richtig. Es ist sehr belustigend, die Erfahrung des Propheten zu machen. Zuerst wird man beschimpft, man würde Panik erzeugen. Zehn Jahre später hört man dann: Na ja, Sie haben das Ausmaß der Gefahr gar nicht richtig erfasst! Zuerst gilt der Prophet nichts, dann gibt es eine kurze Phase, wo er eine Lichtfigur ist, dann kippt es ins Gegenteil. (Peter Mayr, Karin Riss, 17.4.2020)