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Das Coronavirus hat zuerst in reicheren Ländern voll zugeschlagen. Nach und nach kommt es jetzt in ärmere wie Bangladesch. Die Regierung des Landes hat vor knapp einem Monat das Land, ähnlich wie Österreich, auf Notbetrieb heruntergefahren. Das könnte ein großer Fehler gewesen sein, sagt Yale-Ökonom Mushfiq Mobarak, der selbst dort geboren ist und nun in den USA lebt, im STANDARD-Interview. Menschen würden die Einkommen wegbrechen, viele leben von der Hand in den Mund. Ihnen droht der Hunger.

Normalerweise arbeiten Wissenschafter langsam. Bis Studien publiziert werden, vergehen oft Jahre. Ähnlich wie Virologen arbeiten aber derzeit auch Ökonomen wie Mobarak im Eiltempo. Er bittet darum, das Interview schnell zu veröffentlichen – und um eine Kopie. Er will es übersetzen lassen, um die öffentliche Debatte in Bangladesch anzustoßen.

Tausende Muslime bei einem Gebet für Schutz vor dem neuen Coronavirus am 18. März.
Foto: APA/AFP/STR

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STANDARD: Sie warnen davor, dass ärmere Länder einfach blind die Corona-Strategie von reicheren Ländern kopieren. Warum?

Mobarak: Der Nutzen von Social Distancing ist zum Beispiel in Bangladesch anders als in Österreich. Viele ärmere Länder sind deutlich jünger, es gibt viel weniger alte Menschen, die gefährdeter wären. Außerdem ergibt es oft keinen Sinn, Kapazitäten in Spitälern zu sichern, wenn sie ohnehin nicht vorhanden sind. In vielen ländlichen Gebieten in Bangladesch gibt es gar keine Beatmungsgeräte.

STANDARD: Es gibt weniger Alte, dafür mehr Junge mit Vorerkrankungen.

Mobarak: Das Virus könnte in ärmeren Regionen gefährlicher sein, wo es viel Verschmutzung und daher Atemwegserkrankungen gibt. Dasselbe könnte für Menschen gelten, die unterernährt sind. Uns fehlen schlicht noch die Daten, und wir müssen uns darüber im Klaren sein: Wir fliegen alle blind. Keiner weiß zu 100 Prozent, was die richtige Antwort ist.

Bild nicht mehr verfügbar.

Blick von oben auf die Hauptstadt Dhaka, 27. März.
Foto: Reuters / MOHAMMAD PONIR HOSSAIN

STANDARD: Trotzdem warnen Sie.

Mobarak: Ja, weil nicht nur der Nutzen geringer sein könnte, sondern weil auch die Kosten viel höher sind. Viele Menschen in ärmeren Ländern leben von der Hand in den Mund. Was sie an einem Tag verdienen, ist, womit sie ihre Familie ernähren. Wir haben etwa in der Vergangenheit in Nepal gearbeitet und die Leute nun direkt nach dem Lockdown dort wieder interviewt. Es zeigt sich: Vielen ist das Einkommen weggebrochen. Fragt man die Menschen, was ihnen Sorge bereitet, ist es ihr Job und etwas zu essen zu haben, selten das Virus. Wenn der Staat dort nicht hilft, ist das sehr gefährlich. Auch so etwas hat Einfluss auf die Sterberate – und darüber hinaus auf die langfristige Entwicklung von Kindern.

STANDARD: Was wäre ein besserer Weg für diese Länder?

Mobarak: Die strenge Form des Lockdowns ist: Die Menschen dürfen nur für das Allernötigste nach draußen, etwa um einzukaufen. In ärmeren Ländern scheint es mir klüger, den Lockdown auf religiöse und soziale Zusammenkünfte zu beschränken, damit Menschen weiter arbeiten gehen können. Dazu kommt nämlich auch: Länder mit einem starken Staatsapparat wie China können die Menschen dazu bringen, die Vorgaben einzuhalten. In Ländern mit nicht so guten Institutionen, wo nicht wenige nicht lesen und schreiben können, ist das anders. Oft sind Leute auf dem Land für den Staat schwer erreichbar.

STANDARD: Bangladesch hat trotzdem eine Ausgangssperre von einem Monat. Warum?

Mobarak: Anders als bei Ebola oder beim Zikavirus hat das Virus dieses Mal reichere Länder zuerst getroffen. Wir orientieren uns bei Krisenbewältigung oft an diesen Ländern. Für einen Politiker ist es zudem riskant, von den Maßnahmen anderer Länder abzuweichen. Geht es schief, ist es sein Risiko. Darum ist es wichtig, mehr Forschung auf ärmere Länder anzuwenden. Damit Politiker Unterstützung haben, die handeln wollen.

Der öffentliche Verkehr in Dhaka: Einige tragen Masken.
Foto: Foto: imago images/Pacific Press Agenc / Md. Rakibul Hasan

STANDARD: Wie funktioniert der Lockdown in Bangladesch in der Praxis?

Mobarak: Viele Menschen kamen vom Land in die Stadt, um auf einer Baustelle zu arbeiten oder um mit Rikschas Taxi zu fahren. Nach dem Lockdown macht es für sie keinen Sinn mehr, in der Stadt zu sein, und viele fuhren in vollgepackten Bussen und Zügen heim. Das Virus hat sich so wahrscheinlich auf das Land ausgebreitet. Das ist auch in Indien, Nepal und Kenia passiert. Nachdem religiöse Veranstaltungen in Bangladesch verboten worden waren, passierte das Gegenteil: Es gab Massenveranstaltungen, auf denen Prediger Menschen vom Virus heilen wollten.

STANDARD: Wie könnte man helfen?

Mobarak: Es gibt gute Erfahrungen mit Geldtransfers an Ärmere. Wir arbeiten mit dem größten Telefonanbieter des Landes und mit der Regierung zusammen, um den Menschen direkt Geld auf das Handy überweisen zu können. Die Frage ist aber, wie man die, die es brauchen, gut identifiziert. Ich arbeite seit vielen Jahren in Bangladesch und habe gute, repräsentative Stichproben von Menschen in ländlichen Regionen. Wir rufen die Leute gerade durch und fragen, ob sie Symptome haben, aber auch, ob Lebensmittel knapp sind oder die Preise dafür steigen.

Entwicklungsökonom Mobarak.
Foto: Yale University

STANDARD: Medien zufolge sind eine Million Jobs in der Textilindustrie weggefallen.

Mobarak: Ja, weil der Westen keine Kleidung mehr einkauft. Das ist unser Hauptexportgut. Viele sind auch von Migranten abhängig, die Geld heimschicken. Das wird auch weniger. Das sind große Probleme. Ich habe dem Textilverband vorgeschlagen, doch Masken statt T-Shirts zu produzieren. Darüber wird nachgedacht.

STANDARD: Im Jahr 1990 lebten auf der Welt noch 1,8 Milliarden Menschen in extremer Armut, heute sind es etwa 600 Millionen. Wie weit wirft uns das im Kampf gegen Armut zurück?

Mobarak: Es gibt eine Studie, die zum Schluss kommt: um zwanzig oder dreißig Jahre. Das glaube ich nicht. Es wurden viele Fortschritte gemacht, die gehen nicht so schnell wieder weg. Wenn man sich die Geschichte anschaut, ist es sehr schwer für ärmere Länder, reich zu werden. Es ist aber umgekehrt genauso schwer: Deutschland wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört, aber es dauerte nicht lange, bis das Land auf die Füße kam. Entwicklung heißt nicht nur, dass es Straßen und Brücken gibt. Es ist das Kapital, das in den Köpfen der Menschen vorhanden ist. Bangladesch schaut heute ganz anders aus als vor 20 oder 30 Jahren. Das werden wir nicht plötzlich alles wieder verlieren. Aber sicher, es ist eine Gefahr.

Wenn Ihnen der Beitrag gefallen hat, melden Sie sich für den Newsletter an. Ich schreibe Ihnen, wenn im Rahmen der Serie ein neuer erscheint. (Andreas Sator, 19.4.2020)