Von der Chefin der Österreichischen Hochschülerschaft zur Chefin des Grünen Klubs im Nationalrat: Sigrid Maurer.
Foto: Heribert Corn

Die Haarsträhne über ihrer Stirn ist inzwischen lästig lang geworden. Immer wieder wischt sie sich den vordersten Schopf mit der linken Hand eilig aus dem Gesicht. Sigi Maurer sitzt vor einem fast leeren Bücherregal und einer Pflanze, die kaum noch Blätter trägt. Mehr gibt ihr Büro als Bildausschnitt für ein Videointerview derzeit nicht her. Es ist Ostermontag. Es ist Krise. Und Maurer ist Teil ihrer Bewältigung. Die grüne Fraktionschefin schaut müde aus. Irgendwie auch zufrieden.

Hemmungsloser Hass

Die Räume ihres Klubs in der Wiener Löwelstraße konnten die grünen Abgeordneten vor Corona gar nicht beziehen. Es komme ihr vor, als liege die Zeit vor der Pandemie Monate zurück, sagt Maurer. Seither schlafe sie wenig. "Brutaler Workload derzeit."

Polarisiert hat die Neo-Klubchefin der Neo-Regierungspartei schon immer: Grüne linke Feministin – manche fühlen sich schon allein von dieser Zuschreibung provoziert. Und Hass entlädt sich bekanntlich besonders hemmungslos in sozialen Medien, wo sich Maurer zu Hause fühlt wie wenige andere Spitzenpolitikerinnen. "Vergewaltigungsdrohungen sind weniger geworden", erzählt Maurer so beiläufig, als würde sie übers Wetter sprechen.

Sie ist ein gebranntes Kind. Neuerdings hat sich die Kritik an ihr aber verändert. "Wendehals" ist da ein Wort, das fällt. Denn Maurer musste in den vergangenen Monaten einen Kostümwechsel hinlegen, der auf den ersten Blick unstimmiger nicht sein könnte. Überspitzt könnte man sagen: Die Stinkefinger-Rebellin von einst muss nun dem grünen Klub türkise Positionen einpeitschen. Doch spricht man mit Menschen, die Sigi Maurer auf verschiedenen Stationen ihres Lebens begleitet haben, sagen viele: Sie sei ziemlich anders, als sie medial oft rüberkomme – und ihre vermeintliche Wendung sei gar nicht so überraschend.

Tiroler Wurzeln

Aufgewachsen ist die heute 35-Jährige mit drei Schwestern in der 1600-Einwohner-Gemeinde Telfes im Stubaital. Den Tiroler Akzent hat sie bis heute nicht ganz losbekommen. Ihre Eltern arbeiten beide als Lehrer. Maurer inskribiert zuerst Politik- und Musikwissenschaften in Innsbruck. Im Jahr 2009 wird sie "völlig ungeplant", wie sie beteuert, Vorsitzende der Österreichischen Hochschülerschaft. "Die grünen Studierenden haben keine Spitzenkandidatin gefunden, da bin ich eingesprungen." Einen Abschluss macht sie erst danach in Wien: Heute hat sie einen Bachelor in Soziologie.

Unter Maurers ÖH-Regentschaft entflammt die "Uni brennt"-Bewegung: Tausende Studentinnen und Studenten besetzen die Hörsäle im Kampf um mehr Geld für die Unis. Maurer sitzt zwar abends in den Fernsehstudios, ihrer Hochschülerschaft entgleiten die Proteste jedoch zunehmend. Viel mehr noch: Maurer verkörpert für viele Streikende das universitäre Establishment. Sie kann die Zeit dennoch für sich nützen. Maurer baut sich ein Netzwerk auf, trifft Journalisten und Abgeordnete, fährt nach Alpbach. "Sigi hatte schon damals ein ausgeprägtes strategisches Machtbewusstsein", sagt Mirijam Hall, die damals für die roten Studierenden im ÖH-Vorsitzteam saß.

Hall erinnert sich an lange Nächte mit Maurer: Es wurde diskutiert, bis die Aschenbecher vor lauter Zigarettenstummeln überquollen. "Sigis erste Anschaffung war eine Schlafcouch für unser Büro." In Abwandlungen hört man den Kern dieser Geschichte von jedem, der Maurer kennt: Was sie tut, macht sie 24/7 mit 120 Prozent Einsatz.

Ihre Herangehensweise bezeichnet Maurer als pragmatisch. Das bedeute: Im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten agieren. Oder anders formuliert: "Natürlich würde ich gerne das Patriarchat abschaffen. Auch inmitten der Corona-Krise. Es ist aber halt unrealistisch."

Wie es sein kann, dass sie heute als Umfallerin bezeichnet wird? "Natürlich kommentiere ich Sebastian Kurz nicht mehr in demselben Ton wie vor der Wahl", sagt Maurer. Sie schätze sein "Professionalitätslevel in der politischen Arbeit". Das heiße aber nicht, dass ihr plötzlich alles gefalle, was die ÖVP wolle. "Manche Dinge sind mir schlichtweg zuwider." Opportunistin, das wiederholt sie mehrfach, sei sie bestimmt keine.

Angepasster als gedacht

Wahrscheinlich war Maurer einfach schon immer angepasster als ihr Ruf. "Eine große Ideologin war sie nie, auch wenn sie mit dem gegenteiligen Image spielt", sagt ein früherer Wegbegleiter, der sie bis heute schätzt. "Natürlich ist es absurd, dass sie jetzt ÖVP-Politik verteidigt, aber sie geht ihren Weg, und bis dato hat sie den grünen Klub mustergültig im Griff."

Am strengen Regime der früheren Grünen- und Klubchefin Eva Glawischnig hatte sie anno dazumal hingegen einiges auszusetzen. Schon zwischen 2013 und 2017 saß Maurer im Nationalrat. "Als junge Abgeordnete trat sie scharf und selbstbewusst auf", erinnert sich eine Ex-Mandatarin. Glawischnig und sie seien dabei regelmäßig aneinandergeraten. "Die waren beide Alpha-Typen."

Auch Ambitionen, die grüne Partei eines Tages zu übernehmen, werden Sigi Maurer nachgesagt.
Foto: Heribert Corn

Zeug zur Grünen-Chefin?

Auch da sind sich fast alle einig, die sie kennen: Maurer ist sehr ehrgeizig, hat den sprichwörtlichen Zug zum Tor. "Natürlich will sie die Grünen irgendwann übernehmen. Wenn nicht nach Werner Kogler, dann als Übernächste", sagt ein früherer enger Arbeitskollege. Sie selbst weicht, darauf angesprochen, aus: Die Grünen hätten viele gute Leute – "gerade auch neu in der Regierung". Ihr Platz sei jetzt im Parlament.

Man muss sagen: Es gab für sie keine andere Option. Schon im Wahlkampf hatte ÖVP-Chef Sebastian Kurz ausgeschlossen, Maurer in einer möglichen türkis-grünen Regierung zur Ministerin zu machen. "Das war aber auch für mich nie ein Thema", sagt Maurer.

In der aktuellen Führungsriege habe die Klubobfrau nicht viel zu sagen, hört man, wenn man sich im grünen Umfeld umhört. Dort würden schließlich weiterhin die "Old Boys" den Kurs vorgeben: Parteichef und Vizekanzler Werner Kogler und dessen Kabinettschef Dieter Brosz, Sozialminister Rudi Anschober und sein Generalsekretär Stefan Wallner. Maurer müsse im Nationalrat exekutieren, was die ihr vorgeben. "Einfach hat sie es nicht", sagt ein grüner Abgeordneter.

Maurer komme medial oft anders rüber, als sie eigentlich sei, sagt Sibylle Hamann, bis vor kurzem Journalistin, jetzt grüne Mandatarin. "Sie kümmert sich um uns wie ein Hirtenhund und schaut, dass es allen gut geht." Schroff wirke sie bisweilen vor allem deshalb, weil sie sich als glühende Feministin nicht scheue, den Mund aufzumachen.

Die leidige Geschichte

Das bekannteste Beispiel dafür ist wohl die leidige Geschichte mit einem Wiener Bierwirt, die noch nicht letztinstanzlich geklärt ist. Vom Facebook-Account des Gastronomen bekam Maurer obszöne Nachrichten, die sie prompt veröffentlichte. Daraufhin bestritt der Mann, die Texte selbst verfasst zu haben, und klagte Maurer wegen übler Nachrede.

Das alles geschah in der Zeit, als die Grünen aus dem Parlament geflogen waren. Maurer hatte damals beim Institut für Höhere Studien angeheuert, medial war sie durch die Causa Bierwirt präsenter denn je. "Es ist schon erstaunlich, eigentlich hat Sigi in der Zeit der außerparlamentarischen Opposition genauso weitergemacht wie davor", sagt ein früherer Kollege. "Halt ohne Partei."

Was Maurer bis heute nicht gut kann, ist, Kritik wegzustecken. Liest sie etwas über sich, das ihr nicht passt, flippt sie erst einmal aus, beschwert sich bei Journalisten, ärgert sich maßlos. "Hat sie aber ein paar Mal darüber geschlafen, merkst du, dass sie Kritik ernst nimmt und schon bald in ihrer Positionierung mitbedenkt", erinnert sich ein alter Bekannter.

Derzeit ärgere sie sich vor allem darüber, dass auf Twitter ihre Witze immer weniger als solche verstanden würden, erzählt Maurer. Ein Journalist schrieb kürzlich, man möge im Kampf gegen überhitzte Gemüter doch Spaziergänge verordnen – scherzhaft, versteht sich. Maurer antwortete selbstironisch im Sprech der Grünen: "Eine Verpflichtung wird es mit uns nicht geben." Schon wurde sie von einem Twitter-User belehrt: Der Journalist habe doch bloß einen Witz gemacht. (Katharina Mittelstaedt, 18.04.2020)