Natascha Gangl fragt sich in ihrem seit 2009 fortgeschriebenen Stück, wie in Pandemiezeiten Rhetoriken der Angst wirken.

Daniel Sostaric

Autorinnen und Autoren sitzen in den Startlöchern für die erste Corona-Literatur. Thomas Glavinic schreibt seit Beginn des Lockdowns an einem Fortsetzungsroman für Die Welt. Andere wie etwa die Britin A. L. Kennedy tun dies in Tagebuchform. Es sind stets zerstückelte Wahrnehmungen der Welt, die nach einer Woche ja schon wieder eine andere geworden ist. Abgeschlossene literarische Formen stehen dem Habhaftwerden unserer Gegenwart momentan im Weg. Diese Erfahrung macht auch Natascha Gangl. Die österreichische Dramatikerin schreibt seit zehn Jahren an einem Theaterstück über eine Pandemie – ohne Ende.

Unter dem Titel Haus der Antikörper hätte eine adaptierte Textfassung am vergangenen Wochenende am Theater Rampe in Stuttgart Premiere gefeiert. Die Aufführung wurde noch ohne eine Ahnung von Corona programmiert und entwickelt. Dass jetzt ausgerechnet eine Pandemie das Stück über eine Pandemie verhindert, das hat alle Beteiligten "geschockt", so Natascha Gangl im STANDARD-Gespräch.

Nationale Schuldzuweisung

Derzeit wird nach Umwidmung der Fördergelder an einer Filmversion gearbeitet, die Ende Mai online herauskommen soll. Gangl, 1986 in Bad Radkersburg geboren, hat 2009, als in Mexiko die sogenannte Schweinegrippe ausbrach, begonnen, ihr Stück über diese im Fachjargon H1N1 2009/10 genannte Pandemie zu schreiben. Auch kursierte bezeichnenderweise der Begriff Mexikanische Grippe, der wie schon die sogenannte Spanische Grippe von 1918–20 eine nationale Schuldzuweisung insinuierte. Und das führt bereits zum zentralen Fokus in Natascha Gangls Stück: Die Autorin interessiert sich vor allem für die Mechanismen einer Sprache, die "korrumpiert, infiltriert, pervertiert".

Gangl hat selbst viele Jahre in Mexiko gelebt und konnte dank Freunden den Ausbruch des Virus bzw. das von Verantwortlichen und Politikern kreierte Narrativ seiner Verbreitung und Eindämmung aus nächster Nähe verfolgen. So wurden beispielsweise die Familien im Umfeld der als Ausgangspunkt eruierten Schweinefabrik mit Urlaubsgutscheinen und Stipendien für die Kinder besänftigt. Gangl untersucht, wie Rhetoriken ineinanderlappen, also wie eine Sprache der Angst, der Übergriffe, der Autorität – etwa bei polizeilichen Ermittlungen oder beim Autonomieverlust im Krankheitsfall – den Diskurs zu dominieren beginnt.

Rhetorikmuster

Im Stück, dessen Titel im Original Die große zoologische Pandemie lautet, heißt es etwa: "Wohnungsdurchsuchungen stehen bei Infizierten an der Tagesordnung". Echt? Sucht man dort das Virus? Oder will man Teilen der Bevölkerung eher drohend auf die Finger schauen?

Wie ein Schwamm hat Gangl Informationen zum Leben mit dem Virus aufgesaugt und ihre Widersprüchlichkeiten sowie ihr Potenzial zur Korruption in der "unendlichen Textfläche" aufgedröselt. In acht Kapiteln mit Überschriften wie "Krieg", "Familie" oder "Einbruch" spielt die Autorin Rhetorikmuster in verschiedenen Tonlagen durch, mal heimtückisch zuschlagend, mal intim defensiv. Dabei hat sie vor allem William S. Burroughs Essaysammlung The Electric Revolution bzw. seine "Language is a virus"-Theorie begleitet. Diese besagt, einfach gesprochen, dass Sprache, nicht zuletzt durch die Verbreitung von Falschinformationen, die Realität erschüttert. In Mexiko, so Gangl, wurden Aufdeckerjournalistinnen auf diese Weise gezielt sabotiert. "Man wusste nicht mehr, wer ist paranoid, was ist Fakt und was ein Gerücht".

Die zoologische Pandemie ist ein Stück, das die Realität der aktuellen Covid-Seuche nun erneut einholt. Das tat die Realität allerdings schon immer. Natascha Gangl hat den Text in den letzten zehn Jahren stetig überarbeitet, etwa 2015, als sich mit der Migrationsbewegung nach Europa die Rhetoriken der Feindsuche und Schuldzuweisung erneut zugespitzt hatten und so eine fremdenfeindliche, ja kriegerische Stimmung hergestellt wurde. In weiterer Folge kam der Text dann unter dem Titel Hausbruch in Zürich zur Premiere und war 2018 auch am Schauspielhaus in Wien sowie am Theater am Lend in Graz zu sehen.

Diskurse werden gesteuert

Ihr Stück begreift Gangl nicht als linear oder statisch, sondern als Baukasten, der aus unterschiedlichen Modulen besteht. Diese können je nach Aufführungssituation anders montiert und ergänzt werden. Was wird die Essenz von Covid-19 sein? Hellhörig macht Gangl die Art, wie Diskurse derzeit gesteuert werden: "Niemand spricht über Massentierhaltung oder über illegale Arbeitslager!" Und vor allem interessiert sie, wie sich der Individualismus aufzulösen beginnt. "Die Pandemie ist ein gemeinsames Problem!"

Natascha Gangl präsentiert Auszüge aus Die große zoologische Pandemie heute, Montag, ab 14 Uhr, gemeinsam mit Birgit Kellner und Christian Schlechter vom Figurentheater Spitzwegerich auf der STANDARD-Corona-Stage. Auf derselben Bühne folgt ihr um 16 Uhr Kabarettist Mathias Novovesky. (Margarete Affenzeller, 20.4.2020)