Soziale Medien können die analoge Kommunikation nicht ersetzen, warnt der Experte.

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Paul Plener: "Es wird spannend sein zu sehen, was Kinder als Erinnerung an diese Zeit behalten."

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Kinder und Jugendliche dürfen nicht mehr in die Schule, keine Gleichaltrigen sehen und sind zu Hause oftmals mit überforderten Eltern und beengten Platzverhältnissen konfrontiert. Kinder- und Jugendpsychiater Paul Plener warnt vor den Folgen dieser psychischen Belastung.

STANDARD: Wie geht es Kindern und Jugendlichen zu Hause?

Plener: Seit etwa zwei Wochen sehen wir vermehrt krisenhaftes Geschehen – entweder innerhalb der Familien oder in Wohngemeinschaften, wo Kinder und Jugendliche betreut werden. Es gibt auch Suizidversuche, typischerweise bei Jugendlichen ab dem 14. Lebensjahr. Wir sind gerade dabei zu überprüfen, ob sich eine Häufung im Vergleich zu den Vorjahren statistisch nachweisen lässt. Aber gefühlt tritt das derzeit vermehrt auf.

STANDARD: Welche Probleme kommen Ihnen noch unter?

Plener: Was sich häuft, sind Anrufe von Eltern, die sagen, dass es zu Hause kaum mehr erträglich ist. Besonders wenn Kinder oder Eltern bereits psychisch belastet sind, kann es zu schwierigen familiären Dynamiken kommen. Alle Fachgesellschaften, etwa die Unicef, warnen, dass die Zahlen von Kindesmisshandlung, Missbrauch und häuslicher Gewalt in den Wochen der Ausgangsbeschränkung steigen werden.

STANDARD: Wie beurteilen Sie die Schließung von Schulen und Kindergärten?

Plener: Junge Menschen – das ist jene Gruppe, die in der aktuellen Situation das geringste gesundheitliche Risiko hat – müssen einen extrem hohen Solidarbeitrag leisten. Wir verlangen Kindern und Jugendlichen sehr viel ab. Wir nehmen ihnen ihre Alltagsstruktur weg. Dabei ist es die Entwicklungsaufgabe Jugendlicher, sich im Kontakt mit Gleichaltrigen zu orientieren – gerade in einer Phase, in der man nicht alles mit den Eltern besprechen will.

STANDARD: Dabei würde man meinen, dass sich Kinder freuen, wenn die Schule mal ausfällt.

Plener: Es ist natürlich nicht für alle Kinder gleich schlimm, dass sie derzeit nicht in die Schule gehen können – beispielsweise für Kinder mit Angststörungen oder Kinder, die von Mobbing betroffen sind. Aber allgemein muss man die derzeitige Belastung für junge Menschen möglichst kurz halten. Die positive soziale Verstärkung wurde vielen jungen Menschen aus dem Leben herausgerissen, das ist ein Risiko für psychische Belastungen wie Depressionen. Je länger dieser Zustand andauert, umso schwerer können die Folgen sein.

STANDARD: Helfen soziale Medien in dieser Situation?

Plener: Soziale Medien sind ein Surrogat für soziale Kontakte. Aber sie können die analoge Kommunikation nicht ersetzen. Die Gruppendynamik normaler Gespräche lässt sich schwer in sozialen Medien abbilden. Dort kann immer nur einer reden, und alle anderen hören zu. Analoge Gespräche funktionieren ganz anders.

STANDARD: Was können Eltern tun, um ihren Kindern in der aktuellen Situation zu helfen?

Plener: Offen kommunizieren, aber natürlich in altersgerechter Form. Man darf ruhig sagen, dass man sich Sorgen macht, damit die Kinder die Situation besser verstehen. Wichtig ist auch, eine Tagesstruktur aufrechtzuerhalten. Das ist auch eine Chance, die Tagesstruktur an die physiologischen Lernzeiten Jugendlicher anzupassen. Es bringt nichts, Jugendliche um 7.30 Uhr aus dem Bett zu werfen. Sinnvoller könnte sein, dass die Lernzeit erst um 9.30 Uhr beginnt. Dann müssen Eltern aber darauf achten, dass diese Zeiten eingehalten werden. Da sieht man aber auch das Problem, dass in Zeiten der Krise die Bildungsgerechtigkeit verloren geht, weil eben nicht in allen Haushalten die gleichen Voraussetzungen herrschen.

STANDARD: Ist es möglich, dass Kinder unter den richtigen Voraussetzungen die Corona-Krise sogar positiv in Erinnerung behalten?

Plener: Es wird spannend sein, was Kinder als Erinnerung an diese Zeit behalten. Was in der Krise in vielen Familien, in denen es Väter gibt, passiert ist: Weil die Mütter systemrelevante Jobs haben, gab es zu Hause eine höhere Präsenz der Väter. Das bleibt sicher in Erinnerung. Genau wie die bewusstere Kommunikation innerhalb der Großfamilie – etwa durch regelmäßige Telefonate mit den Großeltern. Und auch die Solidarität, die sich in manchen Nachbarschaften entwickelt hat, wo man füreinander einkaufen geht.

STANDARD: Was fordern Sie jetzt von der Politik?

Plener: Die Maßnahmen, die gesetzt wurden, waren richtig. Nun wäre aber auch wichtig zu wissen, wann der Normalbetrieb wieder aufgenommen wird. Gut wären in einem ersten Schritt Kindergarten und Volksschule, weil diese Altersgruppen über Homeschooling nicht erreicht werden. Es ist auch wesentlich, dass Spielplätze, Skateparks, Schwimmbäder und Begegnungsflächen außerhalb des Elternhauses wieder zugänglich werden. Leicht ist das natürlich nicht. Aber man hat ja schon die schrittweise Öffnung des Handels so detailliert durchdacht. Das müsste auch bei Schulen und Kindergärten jetzt geschehen. (Franziska Zoidl, 21.4.2020)