Polizisten kontrollieren Passanten in Paris.

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Man muss sich Monsieur Dupont vorstellen, wie er hinter dem Vorhang steht und den spielenden Kindern auf der leeren Straße zuschaut. Dann greift er zum Telefon und wählt die Nummer 17 – den Notruf der Polizei. Oder er schreibt ihr einen anonymen Brief, in dem er sich über die Missachtung der Ausgangssperre durch gewisse Nachbarn beklagt.

Manchmal gehen die Denunzianten auch subtiler vor. Monique (Name geändert), neu in einem kleinen Dorf im Süden von Paris wohnhaft, erhielt vergangene Woche Besuch von einer Nachbarin, die es "gut meint". Sie wolle ihr nur mitteilen, sie habe von anderen Nachbarn "gehört", dass sie an den Bürgermeister gelangen wollten. Denn ihr – Moniques – Mann verlasse öfters die Wohnung und kehre spätabends zurück. Das sei gefährlich für die Gesundheit im Ort.

Was stimmt: Moniques Lebenspartner ist Polizist und hat unregelmäßige Einsatzzeiten. Den "Nachbarn" – welchen, wollte die direkte Nachbarin nicht sagen – passt das nicht. Seither hat Monique, wie sie am Telefon erzählt, selber Angst, einen Fuß vor die Tür zu setzen, um auch nur einkaufen zu gehen.

70 Prozent der Polizeianrufe

In Frankreich ist das Thema Denunzieren ziemlich tabu, auch wenn nicht ganz selten. Die Polizeigewerkschaft "Alternative" hat im Bereich Ostfrankreich ausgerechnet, dass an einzelnen Orten 70 Prozent der aktuellen Notrufe Denunziationen ausmachten. Dieses unerwünschte Verhalten banalisiere sich zunehmend, meint Alternative-Sprecher Sylvain André, um die drei wichtigsten Beispiele aufzuzählen: "Sie teilen uns mit, eine Person sei an einem Tag vier- oder fünfmal mit dem Hund Gassi gegangen; eine andere Person sei mehrmals einkaufen gewesen, oder Jugendliche trieben Sport."

Das Motiv hinter diesem Verhalten ist natürlich die Angst vor einer Ansteckung mit Sars-CoV-2. Die meisten selbsternannten Wächter der öffentlichen Ordnung bleiben anonym. Ein wenig wie die legendäre Figur des "corbeau", des Raben, der in französischen Kriminalfilmen häufig eine üble Rolle spielt.

Aufruf zur Denunziation

Andere Citoyens stehen offen dazu, dass sie sich über allzu sorglose Nachbarn beschweren. Die Pariser Gemeinde Montgeron ruft ihre Einwohner sogar dazu auf. "Wenn Sie Zeuge der Nichtbefolgung der Ausgangssperre werden, bitte ich Sie, dies der städtischen oder nationalen Polizei zu melden", schrieb Bürgermeisterin Sylvie Carillon in einem öffentlichen Aushang. Als das Lokalblatt darüber berichtete, rechtfertigte sie sich, die Aufforderung gelte für zwei Wohnviertel, wo die Regeln nicht befolgt würden: "In den Stiegenhäusern bilden sich jeden Tag Gruppen von 15 Personen, und das bisweilen bis zwei Uhr morgens. Die anderen Einwohner sind traumatisiert, sie können nicht mehr schlafen."

Andernorts mehrt sich die Kritik an den Denunzianten. Twitter-Kommentare bemühen den – vom Vichy-Regime geförderten und finanziell unterstützen – Verrat jüdischer Nachbarn im Zweiten Weltkrieg. Dieser Vergleich geht sicher zu weit, gilt es doch angesichts eines hochansteckenden Virus durchaus, wachsam zu sein. Doch schließt das auch das Denunzieren ein?

Fotos verboten

Der Stadtrat des 20. Bezirks von Paris fordert die Einwohner offen dazu auf, vom Anschwärzen anderer abzusehen. "Wir erhalten eine Lawine von Denunziationen, Anrufen, Mails, sogar Fotos", berichtet Bürgermeisterin Frédérique Calandra von der Macron-Partei LRM. "Ich verstehe zwar Augenzeugen, die sich über die Präsenz von Drogenhändlern oder fliegenden Zigarettenverkäufer beschweren. Aber es ist schlicht verboten, Eltern vom Fenster aus zu fotografieren, die sich mit ihren Kindern die Beine vertreten." Die Notrufrummer 17, so Calandra, müsse für dringende Einsätze reserviert bleiben.

Opfer anonymer Raben-Briefe werden in Frankreich zunehmend auch Vertreter des Pflegepersonals. Am Freitag wurde in Bayonne am Atlantik ein Paar zu 120 Stunden Gemeinschaftsarbeit verurteilt, weil es drei in der Nähe lebenden Krankenschwestern anonyme Briefe geschickt hatte. Sie gipfelten in der Aufforderung wegzuziehen, um der Virusverbreitung nicht Vorschub zu leisten.

In der Nähe von Saint-Etienne machte eine Krankenschwester nun ein solches Schreiben publik. "Hinter Ihrem Rücken beklagen sich alle Mieter über Ihre Anwesenheit", steht in dem handschriftlichen Brief, gefolgt von der Aufforderung: "Verlassen Sie den Wohnblock so schnell wie möglich!" Und überhaupt, heißt es weiter: "Außerdem wirken Sie sehr arrogant." (Stefan Brändle aus Paris, 20.4.2020)