Näherte sich Karl Kraus verehrungsvoll und doch mit einer gewissen Befangenheit: Walter Benjamin, der den "Fackel"-Herausgeber als "Dämon" würdigte.

Foto: Akademie der Künste, Berlin

Sollte Walter Benjamin um das Wohlwollen Karl Kraus‘ jemals aktiv geworben haben, so hätte er die Sache spätestens 1931 verloren geben müssen. Benjamins Bewunderung für den Wiener Herausgeber der flammend roten "Fackel"-Hefte hatte Eingang in einen dreiteiligen Essay gefunden: In "Karl Kraus", in Etappen abgedruckt in der "Frankfurter Zeitung", nähert sich der jüdische Philosoph dem Gegenstand seiner Bewunderung, dem streitbaren Feind des käuflichen Meinungsmarktes, auf bewährte Weise mit dem Kopf.

Mehr noch aber strapaziert er – erstmals – die materialistischen Füße. So als hätte Benjamin die "Fackel" nicht so sehr der Auslegung für bedürftig gehalten, sondern ihren Urheber für wert, um von ihm nacheinander als "Allmensch", "Dämon", "Unmensch" zu sprechen. Ziel war es wohl, aus einer Unzahl physiognomischer Details ein im Ganzen zutreffendes Bild Karl Kraus‘ zu gewinnen.

Gericht hält Benjamin (1892-1940) nicht so sehr über Kraus, den er gleichwohl in ein wenig schmeichelhaftes Licht der Ambivalenz rückt. Mehr noch bricht er den Stab über die gesamte bürgerliche Epoche. Kraus gehört schon deshalb zu den selbst Verblendeten, weil er seinen Zeitgenossen zwar mit guten Gründen die Leviten liest. Sein eigenes schriftliches und rednerisches Tun verpflichtet Kraus jedoch Begriffen der Natur, mithin der Unwandelbarkeit von Sprache und, insofern bei ihm von Sittlichkeit und Recht die Rede ist, von Sexualität.

Nähe- und Fernewirkungen

An Karl Kraus als seinem Gegenstand erprobt Benjamin verschiedene Verfahren, die ihn fortan dazu ermutigen werden, die kapitalistische Erscheinungswelt in ein ständiges Wechselspiel von Nähe- und Fernewirkungen zu involvieren. Man fühlt sich von der Dichte des Kraus-Aufsatzes mitunter sogar unangenehm berührt. Aber Benjamin bringt die Verhältnisse zum Tanzen, da er mit den Begriffen von Recht, Sprache und Eros eine Art von Ballett veranstaltet. Nicht immer darf man sicher sein, ob Sätze wie: "im Witzwort kommt die Lust und in der Onanie die Pointe zu ihrem Recht" dem veranlassenden Gegenstand Karl Kraus mehr verdanken als die Gelegenheit zum Sprachexperiment.

Was Benjamin dem begabten Hasser Kraus unbedingt zugute hält, ist dessen Eintreten für eine Art von Takt, die weniger einer Idee von Feinfühligkeit verpflichtet ist. Eher schon hält sie der Hinwendung zu allem Kreatürlichen die Treue. Kraus‘ wahrhaft planetarischer Ekel vor der Phrase und ihren Verkäufern verwandelt ihn in einen Dämon, der an den Übeltätern, indem er Grimassen schneidet, einen Exorzismus vollführt.

Praxis des Menschenfressers

Benjamin wird nicht müde, den Verehrten als Menschenfresser zu charakterisieren, der sich das Blut von den Lippen leckt, Nestroy und Shakespeare viel verdankt und im übrigen auf sein Stichwort lauert: "Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück." Aber Benjamins durch die jüdische Überlieferung geprägte Sprachphilosophie stößt hier auch an Grenzen. Die adamitische Namensgebung soll das von Kraus exzessiv betriebene Zitieren in den Stand der strafenden Praxis erheben: Indem es das Wort bei dessen Namen ruft, führt das Zitat das von den Zeitungsschmierern Misshandelte an seinen Ursprung zurück. Man zögert, schnöder Druckerschwärze auch dann noch, wenn sie die hehren Blätter der "Fackel" ziert, so viel urstoffliche Gewalt zuzugestehen.

Benjamins "Karl-Kraus"-Aufsatz birst förmlich vor Gedankenreichtum. Dort, wo mit Marx die Kritik bürgerlicher Ideologie ins Spiel kommt, zögert der Autor noch, mit dem dialektischen Verfahren ernst zu machen. Kraus selbst blieb gegenüber den apologetischen Zügen seines eigenwilligen Verehrers stur abweisend. Noch das Lob war vergiftet. "Sicherlich gut gemeint" sei der Essay, und "wohl auch gut gedacht".

Die Vernichtung folgte prompt. Er, Kraus, habe der Arbeit "im wesentlichen nur entnehmen können, dass sie von mir handelt, dass der Autor manches von mir zu wissen scheint, was mir bisher unbekannt geblieben war, obschon ich es auch jetzt noch nicht klar erkenne." Gipfel der Abfuhr: "Vielleicht ist es Psychoanalyse." (Ronald Pohl, 21.4.2020)