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Der Rabin-Platz in Tel Aviv hat schon viele Demonstrationen gesehen. So eine aber wohl noch nie: Der Protest fand unter strenger Einhaltung der Distanzregeln statt – Bodenmarkierungen inklusive.

Foto: reuters/corinna kern

Tel Aviv – Es glich einer gigantischen Choreografie: Rund 5.000 Israelis fanden sich Sonntagabend auf dem Tel Aviver Rabin-Platz ein, um unter Einhaltung des gebotenen Zwei-Meter-Abstands für den Erhalt der Demokratie zu protestieren. Zuvor hatten die Initiatoren eigens dafür Bodenmarkierungen angebracht. Die Polizei hatte das verlangt, nachdem es bei einer Demo am Donnerstag zu Verletzungen des Distanzgebots gekommen war.

Seit Wochen finden in Israel Proteste gegen Einschränkungen der Demokratie statt. Nach drei Neuwahlen binnen eines Jahres regiert immer noch Benjamin Netanjahus Übergangskabinett. Der Premier nutzte die Corona-Krise, um den Geheimdienst mit umfassenden Überwachungsbefugnissen auszustatten. Zudem wurde der Start seines Korruptionsprozesses mit Verweis auf die Epidemie verschoben.

Die Demonstranten befürchten, dass die Regierung die Krise für weitere Attacken auf Justiz und Grundfreiheiten nützen könnte. Die Justiz spielt auch in den bisher erfolglosen Regierungsverhandlungen zwischen Netanjahus Partei Likud und dem nach einer Parteispaltung arg dezimierten Team seines Rivalen Benny Gantz eine zentrale Rolle: Der Premier will mehr Durchgriff auf Richterbestellungen, Gantz legte sich bisher quer.

Netanjahu als Blockierer

Immer wieder standen die Verhandlungen gerüchteweise kurz vor dem Durchbruch, platzten dann aber wieder. "Würde irgendjemand anders den Likud führen und nicht Netanjahu, dann hätte Israel schon längst eine Regierung", glaubt Peter Lintl von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Netanjahu gehe es in erster Linie um seine persönliche Agenda, und zwar konkret zum zwei Dinge: "Er will Premierminister bleiben, und er will dem Strafprozess entgehen."

Erstes dürfte er erreicht haben. Bei zweitem spießt es sich. Die Frage, wie viel Einfluss Netanjahus Partei bei der Bestellung von Richtern erhält – die dann über seinen Einspruch gegen die Anklage entscheiden –, ist dem Vernehmen nach der größte Streitpunkt in den Verhandlungen zwischen Netanjahu und Gantz. Ein größerer Einfluss auf die Justiz ist aber nicht nur Netanjahu ein Anliegen, auch die Rechtspartei Yamina macht hier Druck.

Unternehmer sind sauer

Einige israelische Kommentatoren sehen Israel bereits auf die vierte Wahl in Folge zugehen. Dass Netanjahu sich laut Umfragen derzeit in einem Popularitätshoch befindet und nach einer vierten Wahl womöglich ohne Gantz regieren könnte, spreche für diese Präferenz. Nahostforscher Lintl glaubt hingegen nicht, dass Netanjahu es auf einen neuerlichen Wahlgang anlegt. "Er bleibt ja mit Gantz Premierminister", sagt Lintl zum STANDARD. "Ein vierter Wahlgang wäre ein Pokerspiel, auch wenn die Umfragen derzeit günstig sind." Zumal die Wahlen erst in ein paar Monaten stattfinden würden. In manchen tendenziell Likud-freundlichen Kreisen macht sich hingegen schon jetzt Missmut breit: Kleinunternehmer machen ihrem Frust über fehlende staatliche Entschädigungen in Postings und öffentlichen Protesten Luft. Immer öfter zeigen sie sich dabei auch enttäuscht über Benjamin "Bibi" Netanjahu.

Der Likud-Chef verspürt zudem noch von anderer Seite einen gewissen Druck: Immer wieder droht Gantz mit seinem einzigen Joker – einem möglichen Gesetzesbeschluss, der es künftig unmöglich machen würde, dass ein angeklagter Politiker ein Regierungsamt annimmt. Zwar haben Gantz' frühere Parteikollegen bereits angekündigt, hier nicht mitstimmen zu wollen. Es wäre aber nicht das erste Mal im Verhandlungsreigen der vergangenen Monate, dass manche ihre Position um 180 Grad ändern.

Allen taktischen Spielchen ist aber durch das israelische Recht ein zeitliches Limit gesetzt: Bis 7. Mai müssen die Koalitionsverhandlungen beendet sein. Liegt dann keine Einigung auf dem Tisch, werden automatisch Neuwahlen ausgeschrieben. (Maria Sterkl aus Tel Aviv, 20.4.2020)