Das öffentliche Leben geht in Schweden vergleichsweise normal weiter – aber nicht so wie zuvor, rücken Regierungsmitglieder das teils falsche Bild im Ausland zurecht.

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Wurde die schwedische Strategie im Kampf gegen das Coronavirus zu Beginn als wahnwitzig beschrieben, wird sie nun als Heilmittel gefeiert. Beides trifft so nicht zu. Die Regierung in Stockholm hat Ausgangsbeschränkungen beschlossen, allerdings basieren diese auf dem Prinzip der Freiwilligkeit. Schulen und Kindergärten bleiben ebenso geöffnet wie Geschäfte und Friseurläden, Universitäten sind zu. Verboten sind Versammlungen mit mehr als 50 Teilnehmern und Teilnehmerinnen, Besuche in Seniorenheimen und das Bestellen an der Theke in Bars ebenso. Restaurants haben offen, müssen aber sicherstellen, dass die Gäste zwei Meter Abstand voneinander halten können.

Die Schwedinnen und Schweden befürworten diese Strategie laut Umfragen mehrheitlich, sie setzen sie auch um. Die Bevölkerung halte sich zu 98 Prozent an die Ratschläge, sagte der oberste Epidemiologe Anders Tegnell vergangene Woche in einem virtuellen Journalistengespräch. Erhebungen zufolge arbeiten knapp 50 Prozent der Schwedinnen und Schweden momentan von Zuhause aus, die öffentlichen Verkehrsmittel werden in der Hauptstadt halb so viel genützt wie zu Normalzeiten, und auf Stockholms Straßen ist um 70 Prozent weniger los. Das öffentliche Leben geht vergleichsweise ungestört weiter, aber nicht so, als wäre nichts geschehen. Viele Bereiche würden derzeit auf Eis liegen, worunter die Wirtschaft stark leide, trat die schwedische Außenministerin Ann Linde zuletzt dem im Ausland teils verzerrten Bild entgegen. Finanzministerin Magdalena Andersson kündigte an, das BIP werde dieses Jahr um zehn Prozent schrumpfen, die Arbeitslosigkeit um 13,5 steigen.

Sonderbefugnisse

Sollte die Ausbreitung rasant steigen, behält sich die Regierung vor, die Maßnahmen zu verschärfen. Am Freitag hat der Reichstag in Stockholm ein Gesetz verabschiedet, das der Regierung via Sonderbefugnisse ermöglicht, diesbezüglich Entscheidungen zu treffen, ohne vorher das Parlament zu befragen, etwa bestimmte Institutionen und Betriebe zu schließen oder die Versammlungsfreiheit weiter einzuschränken. Schließlich ist auch die Frage, ob die Vorgaben nun greifen oder nicht, nicht geklärt, was auch am geringen Datensatz liegt. Mit Stand vergangenem Freitag belief sich die Zahl der schwedenweit getesteten Menschen auf 75.000. Bei einer Bevölkerung von etwas über zehn Millionen sind das im Vergleich mit Österreich (knapp neun Millionen) wenig: Hierzulande wurden mit Stand Montag über 180.000 Proben genommen. Schwedens Gesundheitsministerin Lena Hallegren kündigte nun an, ihre Anzahl zu erhöhen – vor allem unter Angestellten in Schlüsselberufen.

"Radikale Maßnahmen"

Auch im Vergleich der an oder mit der durch das Coronavirus verursachten Covid-19-Krankheit Verstorbenen schneidet Schweden schlechter ab: 1333 waren es mit Stand Freitag in Schweden, in Österreich waren es laut Sozialministerium am Montag 470. Die Todesrate ist die höchste in Skandinavien: Schweden kommt auf 118 Covid-19-Tote pro einer Million Einwohner, in Dänemark sind es 55, in Norwegen 30, in Finnland 13. Schwedens Nachbarländer haben strikte Eindämmungsschritte verordnet, die sie derzeit langsam zurückschrauben. Allerdings sieht es in einigen europäischen Staaten noch um einiges schlimmer aus.

Wie 2000 Ärztinnen und Ärzte vor ihnen riefen zuletzt dennoch auch 22 Forscherinnen und Forscher die schwedische Regierung auf, mit "schnellen und radikalen Maßnahmen" einzugreifen. Ihr Sonderweg sei "lebensgefährlich". Diese sieht sich aber durch einen zuletzt leichteren Anstieg der detektierten Infektionen in ihrem Kurs bestätigt. Chef-Corona-Berater Tegnell hofft auf eine beginnende Herdenimmunität. Ihm wird vorgeworfen, für ein schnelles Erreichen ebendieser den Tod zahlreicher alter Personen in Kauf zu nehmen: Die meisten Menschen verstarben in Altersheimen. Tegnell räumte ein, dass hier "Fehler gemacht" worden seien. Er betonte gleichzeitig, dass in Schweden fast nur Menschen ins Altersheim kommen, die eine verbleibende Lebenserwartung von wenigen Monaten hätten. (Anna Giulia Fink, 20.4.2020)