Kinder vermissen die Schule und ihre Freunde. Ihre Rechte seien bei den Einschränkungen zu wenig berücksichtigt worden, warnt Jugendanwältin Andrea Holz-Dahrenstaedt.

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Sie dürfen nicht in die Schule oder auf den Spielplatz, sehen ihre Freunde und Teile der Familie nicht und müssen mit einem neuen Alltag und Lernbedingungen klarkommen. Kinder trifft die Corona-Krise besonders. Ihre Rechte werden durch die Maßnahmen massiv eingeschränkt.

Die Salzburger Kinder- und Jugendanwältin Andrea Holz-Dahrenstaedt fordert kreative Lösungen, um Kindern ihre Freiräume zurückzugeben und sie nicht in ihrer Entwicklung zu behindern. "Es gibt Kinderrechte in der Verfassung. Demnach muss das Kindeswohl vorrangig berücksichtigt werden", betont Holz-Dahrenstaedt. Das sei bei vielen Entscheidungen außer Acht gelassen worden. Dem pflichtet der Geschäftsführer von SOS-Kinderdorf, Christian Moser, bei: "Es gibt wohl kaum einen Lebensbereich, der derzeit weniger beachtet wird als das Wohl unserer Kinder."

Recht auf Schutz

Die Kinder- und Jugendanwaltschaft (Kija) warnt etwa vor zunehmender Gewalt in den Familien. Dass es seit Beginn der Ausgangsbeschränkungen einen Rückgang bei den Gefährdungsmeldungen gebe, sei ein Alarmsignal. "Das heißt nicht, dass es weniger Gewalt gibt", sagt die Kinderanwältin. Der Druck in den Familien habe sich erhöht, und gleichzeitig seien die schützenden Systeme weggefallen. Wenn die Kinder nicht in Schulen und Kindergärten gehen, würden Zeichen von Gewalt niemandem auffallen.

Auch bei "147 Rat auf Draht" seien die Anfragen zu familiären Problemen gestiegen, sagt die Leiterin des Kinder- und Jugendnotrufs Birgit Satke. Je länger diese Veränderungen mit dem ungewohnten Tagesablauf andauerten, umso schwieriger sei es. "Das wirkt sich auf das Familiengefüge aus. Es kommt zu Streitereien und Konflikten mit den Eltern", sagt Satke. Vor allem die psychische Gewalt habe zugenommen: Die Kinder würden unter Druck gesetzt, angeschrien, geschimpft und angegriffen.

Recht auf Bildung

Große Sorgen bereitet den Kindern und Jugendlichen, wie es mit der Schule weitergeht. "Manche kommen mit dem E-Learning nicht zurecht, wollen Tipps oder sind mit der Situation überfordert", sagt Birgit Satke. Einige Kinder würden offenkundig nicht ausreichend Antworten auf ihre Fragen bei Lehrern bekommen. Viele hätten Ängste, Unsicherheit, es belaste sie sehr.

"Auf digitale Bildung waren wir nicht vorbereitet, und die Ungleichbehandlung verstärkt sich dadurch", sagt die Salzburger Kinderanwältin. Es fehlten Laptops, und etwa 20 Prozent der Schüler sind für die Lehrer nicht erreichbar. An diesen Kindern seien nun die Schulsozialarbeiter dran, sagt Holz-Dahrenstaedt und fordert, den Druck rauszunehmen: "Kein Kind darf heuer nicht aufsteigen oder negativ beurteilt werden." Die Schüler hätten so viel unter Beweis gestellt, dieses informelle Lernen müsse berücksichtigt werden. Zumindest Schüler mit erhöhten Förderbedarf sollten in Kleingruppen wird zur Schule gehen können, fordert die Jugendanwältin.

Recht auf Eltern

Am Schulalltag vermissen die Kinder am meisten ihre Schulkollegen. Bei Rat auf Draht fragen sie: Darf ich meinen Freund treffen? Darf ich rausgehen? "Es gibt scheinbar zu wenig Information. Sie sind total verunsichert", sagt Birgit Satke. Durch die Corona-Bestimmungen ist aber nicht nur der Kontakt zu Gleichaltrigen und Freunden eingeschränkt. Manche Kinder sehen ihre leiblichen Eltern nicht – etwa wenn sie bei einer Pflegefamilie, in einer Jugend-WG oder einem SOS-Kinderdorf leben.

"Durch den Verlust sozialer Beziehungen sind Kinder in ihrer Entwicklung gebremst", betont die Jugendanwältin. Es gebe Anfragen von Kids, die wissen möchten, ob sie mit ihrer Mama kuscheln dürfen, oder die Angst haben, sie hätten jemanden angesteckt.

Recht auf Freizeit

Durch gesperrten Spielplätze und Freiräume ist auch das Recht auf Freizeit stark eingeschränkt. Die Kija wurde bereits wegen unverhältnismäßig hoher Strafen im öffentlichen Raum kontaktiert. Die Polizei sei etwa eingeschritten, weil jemand auf einen Baum gekraxelt sei – eine angebliche Übertretung der Ausgangsbeschränkungen, gibt Holz-Dahrenstaedt ein Beispiel. Spielplätze und Parkflächen sollten unter bestimmten Sicherheitsvorkehrungen wieder geöffnet werden, fordert die Jugendanwältin. "Kinder müssen sich bewegen. Es gibt ein Recht auf Freizeit und Spiel." Familien könnten sich etwa ausmachen, wer wann den Spielplatz benutzt oder Spielplatzbetreuer, so ähnlich wie Schülerlotsen, könnten eingesetzt werden.

Dabei gebe es große soziale Unterschiede. "Für eine Familie mit mehr Kindern und engeren Wohnraum ist es umso schwieriger als im ländlichen Bereich, wo man in den Garten rauskann", betont Satke. Laut einer Studie des Linzer Soziologen Johann Bacher leben in Österreich und 20 Prozent der Kinder in beengten Wohnverhältnissen, die zudem über keine private Freifläche wie einen Balkon oder Garten bieten. Gleichzeitig war bereits vor der Krise jedes fünfte Kind von Armut betroffen oder bedroht. "Ein Viertel der Kinder ist benachteiligt oder von Armut, Gewalt und Sucht gefährdet. Auf die müssen wir alle besonders gut schauen", sagt Kinderanwältin Holz-Dahrenstaedt. (Stefanie Ruep, 21.4.2020)