Andreas Maier wollte in dieser Geschichte nicht auftauchen. Nicht mit Bild. Das verstehe und respektiere ich: Dass der vergangene Sonntag für den Sprecher des Vienna City Marathon kein Jubeltag war, ist nachvollziehbar.

Und dass Maier an diesem Tag etwas anderes vorgehabt hätte, als alleine die Prater-Hauptallee entlangzutraben, auch: Wenn der vergangene Sonntag so abgelaufen wäre, wie er ablaufen hätte sollen, hätte Andreas Maier gemeinsam mit den VCM-Veranstaltern Wolfgang Konrad und Gerhard Wehr zwischen Uno-City und Burgtheater Dauerstress gehabt. Guten Dauerstress. Aber dem war nicht so. So wie überall auf der Welt. Stress haben Maier, Konrad, Wehr & Co dennoch: Es gilt, den abgesagten Lauf "rückabzuwickeln".

Foto: ©Screenshot Hinterhölzl

Ich werde mich hier jetzt nicht zu den recht unterschiedlichen Startgeld(nicht)rückzahlungsmodalitäten diverser Läufe äußern. Und auch keine Vergleiche zu anderen Großveranstaltern in Österreich, Deutschland und dem Rest der Welt ziehen.

Denn außer Streit steht, dass so eine Absage wehtut. Nicht nur wirtschaftlich.

Wie weh, erzählt Wolfgang Konrad im "Sportmonolog" des STANDARD.

Auf die Substanz verdichtet, trifft die Aufschrift jenes T-Shirts, das am Sonntag einer der Läufer auf der PHA trug, das, was Konrad wohl dachte und denkt, vermutlich punktgenau.

Und da ist Konrad alles andere als allein.

(Und weil ich schon gefragt wurde: Ich weiß nicht, wo es dieses Shirt gibt. Ich habe den mir unbekannten Läufer nur um die Erlaubnis, ihn zu fotografieren, und seinen Vornamen – Michael – gefragt.)

Foto: thomas rottenberg

Absagen treffen aber nicht nur Veranstalter, sondern auch tausende Läuferinnen und Läufer hart: Auch wenn man (hoffentlich) läuft, weil man es gerne tut, sind Ziele wichtig. Und der VCM ist definitiv ein Ziel – unabhängig davon, ob man den ganzen oder den halben Marathon läuft oder Teil einer Staffel ist.

Wurscht, ob man schnell oder langsam ist: Solche Events trägt man sich monatelang, oft ein Jahr davor in den Kalender ein – und tastet sich dann (hoffentlich) halbwegs systematisch heran.

Foto: thomas rottenberg

Wenn dann plötzlich das Ziel "verschwindet", ist das hart. Ein schwarzes Loch. "Wozu hab ich überhaupt trainiert?"

Aber man kann auch positiv antworten. Eben weil niemand nur wegen des Bewerbes läuft – und man im Grunde keinen Bewerb braucht, um sich zu bewegen. Klar: Stimmung, Challenge, Mitläuferinnen und Mitläufer, die gesicherte Strecke, die Versorgung, das Publikum, die Medaille und – außer beim VCM fast überall inkludiert – das Finishershirt sind schon etwas Besonderes.

Aber im Grunde nur Beiwerk. Auch deshalb liefen diesen Sonntag (und in den Tagen davor) sehr, sehr viele Menschen ihren ganz privaten Vienna City Marathon. Das hier sind (ein paar) ihrer Geschichten.

Foto: thomas rottenberg

Hätte mich Sylvia am Sonntag am Donaukanal nicht angesprochen, wäre mir das vermutlich gar nicht aufgefallen. Ich traf die vierfache VCM-Finisherin zufällig bei meinem Longrun. Sylvia erzählte mir vom Frust, dass der Lauf, auf den sich vorzubereiten für eine Berufstätige mit drei Kindern schon in normalen Zeiten logistisch eine Megachallenge darstelle, ausfalle. Und auch wenn sie vieles am Stadtmarathon auszusetzen habe, kämen andere Langstreckenläufe eben familienorganisatorisch kaum infrage. Ganz abgesehen davon, dass ja auch die abgesagt sind.

Heute, sagte Sylvia, laufe sie "nur" einen halben. Oder drei Viertel: Stimmung, Motivation, Gesellschaft – all das müsse man abziehen. Und weg war sie.

Foto: thomas rottenberg

Kurz nach der Sololäuferin kam mir eine Gruppe entgegen. Vier oder sechs Männer in roten Teamshirts, die ganz offensichtlich eigens angefertigt worden waren. Firmen- und Teamnamen groß vorne. "VCM 2020" quer über die Brust – eindeutiger geht kaum.

Da die Gruppe aber gegen so ziemlich alle Abstands- und Soloregeln verstieß, ließ ich die Gopro ausgeschaltet: Es gibt schon mehr als genug Blockwarte.

Aber da war eine Idee: der VCM ohne den VCM.

Foto: thomas rottenberg

Ich musste nicht einmal suchen. Die Treffer poppten auf Social Media von selbst auf. Michael Kozeluha war der Erste, der mir über den Online-Weg lief: Der Wiener DJ war seinen allerersten Marathon gelaufen – und jetzt nicht nur müde, sondern mächtig stolz.

Zu Recht: "Ich habe monatelang auf diesen Termin fokussiert und dann beschlossen, meinen ersten Marathon alleine zu laufen. Es war kein Wettlauf, sondern ein Kennenlernen dieser Distanz von 42,195 km. Bis zirka km 25 konnte ich mein Wunschtempo laufen, danach wurde ich langsamer, aber mit einem gut gefüllten Laufrucksack konnte ich durchlaufen und schaffte meinen ersten Marathon unter fünf Stunden."

Foto: Kozeluha

Etwa zur gleichen Zeit war auch Katharina ihren ersten Marathon gelaufen. Allerdings nicht mutterseelenalleine, sondern mit Norbert, einem erfahrenen Marathoni, als Pacer. Der gab seiner Vereinskollegin im "Team Sportordination" richtig Gas, denn die Triathletin wollte "sehen, was geht".

Darum blieben die beiden auch auf einer bewährt schnellen Strecke: der Hauptallee. Der Vorteil: Man trifft auf Wiens "Lauf-Dorfplatz" immer Bekannte – und die kriegen rasch mit, was man tut. "Wir haben es vorher niemandem gesagt, es waren dann aber doch ein paar Vereinskollegen in der PHA, und die haben uns voll angefeuert. Es war ein wunderschöner erster Marathon, wenn auch anders als gedacht ...☺"

Foto: ©screenshot garmin connect

Auf Katharinas Facebook-Seite finden sich noch ein paar andere "Ersatzmarathonläufer". Nicht nur VCM-Substituierer: Auch Hamburg wäre am 19. April angestanden. Oder der Berliner Halbmarathon. Oder … Aber bleiben wir in Wien, verlassen jedoch kurz das Zeitkorsett "vergangenes Wochenende".

Denn schon vor zwei Wochen, als ich meinen ungeplant-bewerbslosen Zwischendurch-Marathon in den Lainzer Tiergarten setzte, war auch ein anderer "seinen" Vienna City Marathon gelaufen: der 31-jährige Lukas Hinterhölzl.

In Wien erkennt man "Luxi" an seiner Brille – und seinem Tempo: 2:48:28 sind eine Marathonbestzeit (Dubai, Jänner 2020), die man erst mal hinkriegen muss – auch wenn man wie Lukas in 15 Jahren 53 Marathons und fünf Ironmänner absolviert hat.

Foto: © Hinterhölzl

Am 5. April aber lief Luxi die Wiener Wettkampfstrecke ohne Wettkampf. "Ziemlich Crazy aus dem Training heraus" beschloss er, "die Originalstrecke des VCM zu laufen, natürlich mit Start am und auf der Reichsbrücke oben", bis zum Burgtheater, "wo die alte Markierung vom VCM 2019 noch leicht sichtbar war". Aber "ohne jegliche Verpflegung, nur mit meinem Handy in der Hand". Die Route kennt in Wien jeder – aber sie ohne Absperrungen, Begleiter und Publikum in 3:05:09 hinzubrettern, schaffen auch im Wettkampf nur die wenigsten.

Die Geschichte von seinem Stunt hatte Luxi mir schon nach meinem Lainz-Lauf erzählt. Ich habe sie aber ganz bewusst bisher nicht erwähnt: Die Idee, den VCM diesen Sonntag "wild" auf der Originalstrecke zu laufen, war zuletzt öfter kursiert. Da noch ein paar Leute mehr auf diese an sich feine Idee zu bringen wäre nicht schlau gewesen: Der VCM ist nicht aus Jux und Tollerei abgesagt worden – und ob da dann einer oder 50 trotzdem rennen, macht einen Unterschied.

Foto: © Hinterhölzl

Anderswo geht aber immer – und ist auch fein. Naddy M. etwa – ja, genau, jene Dame, die vor einem Monat hier mit ihrem Charity-Halbmarathon im Innenhof auftauchte – lief am Samstag ihren ersten Marathon. Nicht auf der flachen Wiener Stadtmarathonstrecke, sondern durch den Wienerwald: 900 Höhenmeter auf 42 Kilometern sind kein Lercherlschas. Zur Belohnung gab es nicht nur ein Zielband, sondern auch eine echte Finishermedaille: "Die Medaille hat mir mein Schatz gebastelt. Als ich vor vier Jahren mit dem Abnehmen anfing und das Laufen für mich entdeckte, hätte ich nie gedacht, je einen Marathon zu laufen. Die Idee kam letztes Jahr nach dem Halbmarathon beim VCM, und ich habe mich jetzt ein Jahr lang darauf vorbereitet."

Foto: ©Naddy M

Die Sache mit dem Zielband ist wichtig. Und für viele Läuferinnen und Läufer ein Traum. Der Niederösterreicher Herbert Kapfinger erfüllte ihn sich am Sonntag – und das sogar mit Corona-Bezug: Das Band, das seine Kinder am Ende seines Marathons über die Feldwege des Marchfeldes spannten, war, wie Kapfinger betont, "aus wertvollem Klopapier" – alleine das macht so einen Lauf unvergesslich.

Foto: ©Birgit Kapfinger

Und bei einem Läufer wie dem 56-jährigen IT-Experten bedeutet "unvergesslich" etwas: Kapfinger ist einer der 60 "Big Six"-Finisher in Österreich, hat also die großen Läufe von New York, Boston, Chicago, London, Berlin und Tokio "gefinisht". Einer der großen Träume vieler Läuferinnen und Läufer. Und einer, der sich derzeit wohl nur schwer umsetzen lässt: Boston hätte ebenfalls diese Woche stattfinden sollen – abgesagt. Respektive: verschoben mit Fragezeichen. Auch alles andere steht in den Sternen.

Der Lauf im Marchfeld war dennoch besonders: Wann hat man schon die gesamte Familie als Supporter mit dabei?

Foto: ©Birgit Kapfinger

Womit wir bei den Staffeln wären. Beim VCM traditionell eines der Zugpferde. (Von den jährlich 40.000 VCM-TeilnehmerInnen laufen ja gerade 6.000 die Volldistanz.) Da laufen nicht nur Freunde- und Firmen-, sondern auch Familienstaffeln.

Etwa die der burgenländischen Familie Bonomo im Jahr 2019: Vater Helmut war Start- und Durchläufer, Tochter Vali (12) lief sechs, Mutter Sophia neun und Tochter Fini (10) elf Kilometer. Der Plan, erzählt Helmut, habe gelautet, das heuer wieder so zu machen – aber: ehschowissen. Also wurde "bei uns in Purbach am Neusiedler See ein Rundkurs um unser Haus gelaufen, wobei es verschieden lange Schleifen gab."

Foto: ©Bonomo

Vorbereitung und Abwicklung waren professionell – und eine Familienaufgabe: "Während der Woche wurden die Startersackerln von Fini vorbereitet, Oskar (6) gab den Startschuss mit seiner Spritzpistole und betreute die Labestation (Gels, Müsliriegel, Bananen) – an der natürlich auch die Staffelübergaben stattfanden."

Und alleine war niemand unterwegs: Das Gute am Nichtbewerb ist ja, dass man sich zum Beispiel am Rad begleiten lassen kann.

Foto: © Bonomo

Wobei die Bonomos nicht bloß dahinliefen, sondern sich auch auf die Strecke vorbereitet hatten: Auch wenn Wiener im Burgenland gerade keine Leiberl haben, kann man sich Wien beim Laufen an den Neusiedler See holen. "Trotz zwischenzeitlicher Regengüsse war es sehr lustig für uns alle. Wir haben uns die Strecke auf Wien übertragen, und somit haben wir immer darüber geredet, wo wir gerade waren: 'Ich laufe jetzt an der Oper vorbei' oder 'Da vorne sehe ich schon die Votivkirche'."

Foto: © Bonomo

Staffellaufen ist bei Kontaktverbot natürlich "tricky" – aber nicht unmöglich. Die Übergabe muss ja nicht physisch stattfinden.

Wie das gehen kann, zeigte mein Vereinskollege Markus Mauritz am Sonntag: "Es wäre für drei Freunde und mich nach 20 Jahren eine Wiederholung unseres Debüts beim Wiener Staffelmarathon 2000 gewesen. … Start, Übergaben und Finish haben wir per Videochat gemacht. Der Start war pünktlich um 9:00 in Leobendorf. Ich bin als Startläufer eine 15,5-km-Strecke bei leichtem Regen und 13 Grad, also perfektem Wettkampfwetter, in 1:08 gelaufen. Stefan die 6 km auf der Donauinsel, Peter 9,3 km im Burgenland und Harald die Schlussdistanz in Greifenstein.

Gesamt waren wir 3:45 unterwegs, womit wir unsere Leistung aus dem Jahr 2000 um 11 Minuten verbessern konnten. Das Format per Videochat war sehr unterhaltsam und hat super funktioniert. Das Foto hat übrigens meine Frau gemacht, die mich auf dem Rad begleitet und für die Verpflegung gesorgt hat."

Foto: ©Mauritz

Ähnlich machte es die Frauen-Staffel rund um Simone Beck (rechts oben) – wobei die Damen (Judit, links unten; Tatjana, links oben; Waltraud, rechts unten) auf die zeitliche Einheit und die Übergaben verzichteten – und Simone verletzungsbedingt schummeln musste. Na und? "Wir wären heuer zum 3. Mal die VCM-Staffel gemeinsam gelaufen. Ich habe mir bei ner Skitour im Februar das Knie verletzt und darf noch nicht laufen. Aber dann wurde die Veranstaltung abgesagt. Wir haben vereinbart, dennoch die 42K zu absolvieren – so bin ich eben geradelt. Zählt nicht ganz, aber egal. Sportlich waren wir dennoch. Übergabe gab es keine: Wir haben alle im Laufe des Tages die jeweils vorgesehene Streckenlänge absolviert. Nicht auf der VCM-Laufstrecke, sondern da, wo jede gerne läuft, und eben versucht, so schnell wie möglich zu sein ☺."

Screenshot

Ich könnte noch lange weitererzählen. Von Staffeln, Halbmarathons und vollen 42-K-Läufen. Von adaptierten, kombinierten und sonst wie individualisierten "Vienna City Marathons". Und ich habe sicher nur einen Bruchteil der Läufe gefunden: Ein paar Berichte, die mir auf SoMe ins Auge sprangen, übernahm ich nach Rückfrage. Und in zwei Whatsapp-Gruppen (der meines Vereins und der des "Weekly Long Run") fragte ich – und bekam bis Sonntagabend fast zwei Dutzend Geschichten.

Jede hätte es verdient aufzuscheinen. Jede ist wichtig.

Nicht nur für die Läuferinnen und Läufer, die da gelaufen sind, sondern für uns alle.

Denn es geht – wieder einmal – um die große Metapher. Das, wovon ich rede, wenn ich "Laufen" sage: Es geht darum, Ziele, die man sich gesteckt hat, auf anderen Wegen zu erreichen. Sich nicht kleinkriegen zu lassen. Und vor allem: das Lachen und die Freude am Leben nicht zu verlieren. (Thomas Rottenberg, 22.4.2020)

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Foto: thomas rottenberg