Sebastian Kurz spricht mehrfach und schon seit Wochen von der "neuen Normalität", an die wir uns gewöhnen müssten. Das kann man harmlos sehen, in dem Sinn, dass wir noch eine beträchtliche Zeit lang Masken tragen, Abstand halten usw. müssen, und das ist ja nur vernünftig. Singapur, eine autoritäre Demokratie, schien mit strikten Maßnahmen das Virus unter Kontrolle zu haben, aber nach geringfügiger Lockerung verdoppelten sich die Fälle wieder.

Harmlose Verhaltensregeln wie die Maskenpflicht können zur "neuen Normalität" gehören.
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Es gibt aber auch die von Misstrauen getragene Interpretation, nämlich dass "neue Normalität" darin besteht, dass die Regierung oder der Kanzler weiterhin die Grundrechte relativ nonchalant außer Kraft setzen und ohne viel Begründung und unhinterfragbar allerlei Beschränkungen verfügen kann, die auch politische Implikationen haben.

Ausgerechnet der FPÖ-Politiker Herbert Kickl meint nun, dass die neue Normalität der "Ausnahmezustand" sei. Aber auch und gerade liberalen Demokraten ist bei der paternalistischen Art der Regierung beziehungsweise des Kanzlers unbehaglich. Wer ein feines Sensorium hat, kann auch tatsächlich allerlei kleine Warnzeichen für autoritäre Neigungen vor allem in der türkisen Glaubensgemeinschaft registrieren.

Warenströme, Tourismus und sorgloses Verhalten

Die dritte Version von "neuer Normalität" wäre hingegen die Frage, ob sich die Voraussetzungen unseres Lebens durch die Pandemie generell geändert haben. In einem sehr interessanten Zeit-Gespräch verweist der bekannte deutsche Politologe Herfried Münkler darauf, dass die Corona-Pandemie im "Kontext der Normalität auftritt".

Früher waren Seuchen fast immer die Folge von Kriegen. Heute aber seien sie eben im Kontext der "Warenströme, des Tourismus, überhaupt unseres sorglosen Alltagsverhaltens". Bei der Schweinegrippe oder bei Ebola hätte man noch sagen können, das sei ein Problem von Ostasien oder Afrika.

Heute ist die Pandemie zwar in Zentralchina entstanden, ihr Epizentrum ist aber in Europa, sie verschärft sich am schnellsten in den USA. Münkler: "Wir lernen gerade etwas über eine globalisierte Welt, in der die zentralen politischen Akteure zwar Nationalstaaten sind, die aber so stark vernetzt sind, dass sich niemand abschotten kann."

Nicht sicher

Wir lernen mithin, dass wir nicht sicher sind. Nicht sicher nach 75 Jahren weitgehenden Friedens in Europa, nach mindestens 60 Jahren Wohlstand, nach dem Aufbau eines großartigen Wohlfahrtssystems in Europa und nicht sicher nach Jahrzehnten der "westlichen Gemeinschaft", in der ein Hegemon für Stabilität sorgte.

Selbst wenn die wirtschaftliche Corona-Krise nicht in einer "Großen Depression" wie in den Dreißigerjahren endet – die Sicherheit des Wohlstandes ist wohl für etliche Jahre und für viele Menschen in Europa vorbei – und da haben wir noch gar nicht ins Kalkül gezogen, was eine Explosion von Corona im Nahen Osten und in Afrika bedeuten könnte.

Die "neue Normalität" besteht also wohl aus einem längerfristigen Verlust der bisherigen Sicherheit. Viele sind nicht mehr sicher, ob sie nicht ein, zwei Jahre der Selbstisolation vor sich haben, ob ihr Geschäft demnächst illiquid oder ihre Firma pleite ist.

Niemand kann sicher sein, ob das nicht zu einer politischen Radikalisierung und zur Flucht in autoritäre "Lösungen" führt. Bisher hatte die Disziplin gegenüber den – durchaus notwendigen – Maßnahmen Vorrang. Nun muss das alles aber auch diskutiert werden. (Hans Rauscher, 22.4.2020)