Es scheint unwirklich: Während sich die ganze Welt im Ausnahmezustand befindet und die Corona-Krise das Leben der Menschen in der ganzen Bandbreite vom individuellen Alltag bis zur Weltwirtschaft beherrscht, wurden im polnischen Parlament (Sejm) zwei Tage (15.-16. April) dazu aufgewendet, um über ein strikteres Abtreibungsgesetz zu verhandeln. Aber auch weitere umstrittene, von Bürgerinitiativen eingebrachten, Gesetzesentwürfe, wie einem Verbot der Sexualkunde in Schulen oder die Erlaubnis der Teilnahme an der Jagd für Kinder, wurden verhandelt.

Erneut riefen Frauenorganisationen zu Demonstrationen auf. Der nationalkonservativen Regierung rund um Prawo i Sprawiedliwość (Recht und Gerechtigkeit) wurde vorgeworfen, dass sie den Lockdown nütze, um schwierige Gesetze durchzubringen und die konservative Wende rechtlich einzuzementieren. Andere meinten, sie wolle von ihrer schlechten Handhabung mit der Pandemie ablenken. Doch die politische Situation ist offenbar weitaus komplexer. Grundsätzlich war die PiS aufgrund legislativer Vorgaben und Fristen gezwungen, die Lesung der Gesetzesentwürfe jetzt durchzuführen.

Selbstbestimmungsrechte der Polinnen

Polen hat bereits jetzt eines der strengsten Abtreibungsgesetze in Europa. Während in Zeiten der Volksrepublik Polen der legale Zugang zum Schwangerschaftsabbruch gegeben war, geht das jetzige Gesetz auf das Jahr 1993 zurück. Dieses erlaubt eine Abtreibung nur in drei Fällen:

  1. Bei Gefahr für Leben oder Gesundheit der Frau (unabhängig von der Schwangerschaftswoche).
  2. Bei Begleitumständen beim Zustandekommen der Empfängnis (Vergewaltigung oder Inzest; bis zur Beendigung der 12. Schwangerschaftswoche).
  3. Bei embryopathologischen Gründen (bis zu dem Zeitpunkt ab dem der Fötus lebensfähig ist).

Der auf eine Bürgerinitiative der polnischen Pro Life-Aktivistin Kaja Godek zurückgehende Gesetzesantrag hatte das Ziel, den dritten Punkt von der Liste zu streichen. Doch rund 97 Prozent aller Abtreibungen in Polen beziehen sich auf diesen Paragraphen. Deshalb sprechen so viele Medien und Aktivistinnen und Aktivisten von einem de facto vollständigen Abtreibungsverbot. Die Zahlen belegen das: Im Jahr 2017 gingen 1035 Abtreibungen auf festgestellte Pathologien bei Embryos zurück, nur 22 auf Lebens- oder Gesundheitsgefahr der Mutter, keine einzige auf Vergewaltigung oder Inzest (Sejm 2020, abgerufen am 21.04.2020). Bei einer Einwohnerzahl von knapp 38 Millionen lässt sich die Höhe der Dunkelziffer nur erahnen. Polnische Frauenrechtsorganisationen gehen von rund 200.000 illegalen Abtreibungen pro Jahr aus, die oft sehr gefährlich für die betroffenen Frauen sind. Zusätzlich gibt es einen starken "Abtreibungstourismus", dieser ist jedoch aufgrund der hohen Kosten und des hohen organisatorischen Aufwands nur einer bestimmten Gruppe von Frauen zugänglich. Ein rechtswidriger Schwangerschaftsabbruch kann zudem mit einem Freiheitsentzug von bis zu drei Jahren für die Frau, sowie den durchführenden Arzt oder die durchführende Ärztin bestraft werden.

Das nun zur Debatte stehende Projekt ist aber gleichzeitig weniger restriktiv als dasjenige, das 2016 den Schwarzen Protest (#CzarnyProtest) in Polen auslöste. Der damalige Gesetzesentwurf von Ordo Iuris ging noch weiter. Das Gesetz wollte Vergewaltigungsopfer zur Geburt zwingen und Frauen, die selbstständig einen Schwangerschaftsabbruch durchführten, mit Haftstrafen belegen. Der einzige Weg, eine legale Abtreibung durchzuführen, wäre die Feststellung einer Lebensgefahr der schwangeren Frau, eine Gefahr für die Gesundheit hätte nicht mehr ausgereicht. Eine finanzielle Unterstützung war nicht vorgesehen. "Wir werden uns bemühen, dass auch Fälle von sehr schwierigen Schwangerschaften, wenn ein Kind zum Tode verurteilt oder schwer deformiert ist, zur Geburt führen, damit dieses Kind getauft, begraben und benannt werden kann", so 2016 der PiS-Parteichef und einfache Sejm-Abgeordnete Jarosław Kaczyński im Kontext der Verschärfung des Zugangs zum Schwangerschaftsabbruch über die Wertvorstellungen und Ziele seiner Partei.

"My Pussy - My business" ist auf dem Plakat einer Aktivistin zu lesen.
Foto: APA/AFP/WOJTEK RADWANSKI

Lockdown-Proteste

Damals konnte der vorrangig von der Pro Choice-Bewegung Ogólnopolski Strajk Kobiet (Polnischer Frauenstreik) organisierte und mittlerweile schon berühmt gewordene Schwarze Protest diese Gesetzesänderung aufhalten. Zehntausende Menschen in Polen, aber auch solidarisch Verbündete in ganz Europa gingen in schwarzer Kleidung gegen das Gesetz auf die Straßen und vernetzten sich in sozialen Medien. Das mediale Echo weltweit war enorm. Beides führte bei der Regierung zu einem Umschwung, wohl aus Angst bei den anstehenden Wahlen im Jahr 2019 zu verlieren ‒ das Gesetz wurde in zweiter Lesung mit großer Mehrheit abgelehnt.

Nun, knapp vier Jahre später, wird erneut gegen die Verschärfung des Gesetzes protestiert, doch die Umstände sind ganz andere. In Zeiten der Ausgangssperren und Covid-19-Restriktionen war bei den Demonstrantinnen und Demonstranten Kreativität gefragt. Pro Choice-Bewegungen, allen voran wieder Ogólnopolski Strajk Kobiet, die 2019 von der EU mit dem EESC Civil Society Prize ausgezeichnet wurde, motivierten Zehntausende, sich für die Selbstbestimmung von Frauen einzusetzen. Bei den von 10.-16. April dauernden Lockdown-Protesten wurde die Form den Bedingungen angepasst: Einkaufsschlangen-, Balkon-, Fahrrad- und Auto-Proteste wurden angesetzt (#KolejkaPoWolność ‒ Schlange zur Freiheit); Plakate im öffentlichen Raum und an den eigenen Fenster angebracht; Schwarze Schirme (Symbol des Protests) überall sichtbar zur Schau gestellt. Als Organisationsplattform funktionierte eine Facebook-Veranstaltung, die über alle Aktionen minutiös informierte, Plakate und Texte zum Proteste bereitstellte, über die Sachlage informierte, aber auch rechtlich zu den Protesten beriet (zum Beispiel wären von Behörden verhängte Geldstrafen für etwaige Protestaktionen illegal und sollten nicht angenommen werden, da in Polen kein Ausnahmezustand verhängt wurde). Druck auf die Politik wurde ebenfalls über Soziale Medien mithilfe von Protestfoto-Aktionen oder öffentlichen Tweets an Politikerinnen und Politikern gemacht. Es dominierte der Hashtag #PiekłoKobiet – Hölle der Frauen.

Wahlen – egal wie, Hauptsache jetzt

"Abtreibung ist eine schlimmere Pandemie als das Coronavirus", sagte Kaja Godek bei der ersten Lesung des Gesetzes letzte Woche. Viele solcher radikalen Sätze fielen, doch die Abstimmung am 16. April fiel neutral aus: 187 stimmten für die Gesetzesänderung, 254 dagegen (das heißt für eine Weiterleitung in die Ausschüsse). So wurde das Gesetzesprojekt in Parlamentsausschüsse überwiesen, wo es nun wieder für eine gewisse Zeit "eingefroren" ist. Dies wird als Etappensieg der Protestbewegung gewertet. Doch die PiS stand bei der Behandlung dieses Gesetzesentwurfs von Anfang an vor einem Dilemma: Sie konnte aufgrund ihrer konservativen Wählerschaft und der Beziehung zur Kirche nicht gegen den Gesetzesentwurf sein; gleichzeitig konnte sie ihn aber aufgrund der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen im Mai nicht annehmen, denn dies würde ihrem Präsidentschaftskandidaten und amtierenden Präsidenten Andrzej Duda (PiS) zu viele Stimmen kosten, denn rund 70 Prozent der Bevölkerung sind gegen eine Verschärfung des Gesetzes.

Zudem würden sich die Blicke der internationalen Gemeinschaft erneut auf Polen richten. Erst letzten Freitag sprach das Europaparlament in einem Entschließungsantrag Kritik an den Übergriffen auf LGBTIQ-Personen in Polen aus, der EuGH prüft schon seit Längerem den Zustand der Justiz in Polen und ob die Rechtsstaatlichkeit des Staates gesichert ist. Noch mehr öffentliche Aufmerksamkeit in Europa will die PiS keinesfalls. Die für Mai geplanten Wahlen werden von den meisten Verfassungsexpertinnen und Verfassungsexperten als verfassungswidrig angesehen, denn zurzeit gibt es keinen genauen Plan wie die Wahlen abgehalten werden sollen. Eine normale Wahl ist in Zeiten von Ausgangsbeschränkungen und Versammlungsverboten nicht möglich. Die Opposition möchte eine Verschiebung um einige Monate, dafür müsste der Ausnahmezustand verhängt werden. Dies will die PiS nicht, denn in einigen Monaten könnte sich ihr Umgang mit der Corona-Krise negativ auf das Wahlergebnis auswirken. Zum jetzigen Zeitpunkt können sie mit einem Wahlsieg Dudas rechnen und forcieren daher eine Briefwahl, die in Polen aber keine Tradition hat und erstmals für diese Wahl in einem solchen Ausmaß eingeführt werden würde. Zudem würde sie eine große Anzahl von Bürgerinnen und Bürgern ausschließen, wie die im Ausland lebenden Staatsbürger*innen, was gegen die polnische Verfassung verstößt.

Ferner wäre die Realisierung dieses Plans insgesamt eine große Herausforderung: Für die Wahl gilt der bisherige Termin am 10. Mai 2020 – dieser ist in knapp drei Wochen. Jarosław Gowin, Chef der mit der PiS koalierenden Partei Porozumienie (Einigung), noch vor Kurzem stellvertretender Ministerpräsident und ab dem 6. April aus der Regierung aufgrund eines Streits um den Termin der Wahl ausgeschieden, lobbyiert währenddessen für eine Verfassungsänderung mit dem Ziel, die Wahlen erst in zwei Jahren durchzuführen und damit die Amtszeit vom amtierenden Präsidenten Andrzej Duda um zwei Jahre (ohne Möglichkeit der Wiederwahl) zu verlängern.

Die PiS und ihre Pläne

Es ist eher unwahrscheinlich, dass die PiS die Corona-Krise dazu nützen wollte, eine Verschärfung des Schwangerschaftsgesetzes durchzuführen. Dies wäre ein strategisch höchst unpassender Zeitpunkt. Viel eher nützt sie die Pandemie, um ihr Projekt des langfristigen Umbaus der Staatsstruktur Polens, die immer mehr der eines autoritären Staates ähnelt, zu realisieren. Die Präsidentschaftswahl könnte ein weiterer Schritt in diese Richtung sein. Die EU blickt prüfend auf Polen, doch sie scheint zurzeit größere Probleme zu haben, als den Zustand der Justiz, die reproduktiven Rechte von Frauen oder die Situation sexueller Minderheiten in Polen ‒ das könnte die PiS bald ausnützen. Wenn dieser Umbau ähnlich wie in Ungarn gelingen würde, müsste die herrschende Partei bald über Gesetzesänderungen, wie die um den Schwangerschaftsabbruch, nicht mehr debattieren: Sie würde sie einfach veranlassen, denn dann würde Politik ganz über dem Recht stehen. (Magdalena Baran-Szołtys, 23.4.2020)

Magdalena Baran-Szołtys forscht als Postdoc am Research Cluster for the History of Transformations (RECET) an der Universität Wien und am Institut für Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts (Polonistik) an der Universität Warschau.

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