Polizeieinsatz bei Unruhen in Villeneuve-la-Garenne im Norden von Paris.
Foto: GEOFFROY VAN DER HASSELT / AFP

Nur keine Eskalation wie bei den Krawallen von 2005: Nach diesem Motto versuchen die französischen Behörden derzeit die Lage in den Banlieue-Zonen um Paris zu beruhigen. Und diese ist ganz offensichtlich brenzlig. Seit dem Osterwochenende mehren sich Zusammenstöße Jugendlicher mit der Polizei.

Auslöser war ein Beinbruch. Am Ostersamstag wollte eine Polizeipatrouille in Villeneuve-la-Garenne einen Motorradfahrer anhalten, der ohne Helm in verbotener Fahrtrichtung unterwegs war. Er versuchte zu entkommen, fuhr aber in eine sich öffnende Tür eines Polizeiwagens. Im Internet zirkulierte sofort die Version, der Polizist habe den 30-jährigen Mann absichtlich zu Fall bringen wollen. Der Motorradfahrer stürzte und verletzte sich schwer.

Allabendliche Unruhen

Der Vorfall genügte, um ein Feuer zu entfachen: Seit mehr als einer Woche kommt es in der Vorstadt im Norden von Paris allabendlich zu Ausschreitungen. Die Polizei wird mit Steinen, Leuchtraketen und Feuerwerksmaterial empfangen. Autos und Müllcontainer gehen in Flammen auf, die Polizei kontert mit Tränengas. Auch in anderen Banlieue-Städten häufen sich die Zwischenfälle.

Der konservative Bürgermeister von Villeneuve-la-Garenne, Alain Bortolameolli, spricht von bloß von "Zwischenfällen", die Präfektur nennt sie "sporadisch". Doch immerhin betreffen sie nun schon mehrere Gemeinden in allen drei Vorortsdepartementen um Paris. In Genevilliers wurde in der Nacht auf Mittwoch auch ein Brandanschlag auf eine Schule verübt. Auch in gut beleumundeten Orten wie Suresnes oder Meudon brannten nun Autos.

In Hinterhalt gelockt

Innenminister Christophe Castaner hüllt sich bisher in Schweigen, aus Furcht, durch ein falsches Wort die Lage eskalieren zu lassen. Dafür publizierte der polizeibekannte Motorradfahrer vom Spitalbett aus ein Video, in dem er zur Ruhe aufruft.

Weisung von Innenminister Christophe Castaner an die Polizei: Eskalationen bitte vermeiden.
Foto: EPA/ALAIN JOCARD

Banlieue-Polizisten verweisen auf den Umstand, dass es in den Vorstädten schon seit Wochen rumore. Der heftigste Krawall ereignete sich in Grigny im Süden der Hauptstadt. Jugendbanden hatten die Feuerwehr und die Polizei mit Brandstiftungen in einen Hinterhalt gelockt. Einen Polizeihubschrauber vertrieben sie mit Leuchtraketen.

Castaner gab laut Polizeigewerkschaftern trotzdem Anweisung, "keinen Übereifer" an den Tag zu legen – vor allem nicht bei der Ahndung von Verstößen gegen die Coronavirus-bedingte Ausgangssperre. Der Grund ist vor allem sozialer Natur: Oft sind Familien zu sechst in 50 Quadratmeter große Wohnung eingeschlossen. Das belaste die "soziale Fragilität" dermaßen, dass die Lage beim geringsten Problem mit der Polizei sofort ausufern kann.

Angespannte soziale Lage

Erschwerend kommt laut Stadtverwaltern hinzu, dass die Eltern dieser Kinder und Jugendlichen häufig völlig ohne Einkommen dastehen, weil sie bisher von Gelegenheits- und Schwarzarbeit gelebt haben. Das verschärfe familiäre Spannungen und treibe die Kinder vor die Haustüre.

Das Gefühl sozialer Ungerechtigkeit, das in den Vorstadtzonen um Paris von jeher präsent ist, wird durch die Corona-Pandemie zusätzlich verstärkt: In ihren Wohnblöcken zusammengepfercht, sehen die Bewohner im Fernsehen natürlich auch die Berichte über den Exodus jener, die es sich leisten konnten: Mehr als eine Million wohlhabende Pariser sind mittlerweile in ihre bequemeren Zweitresidenzen auf dem Land oder am Meer übersiedelt.

Im Einwanderer-Departement Seine-Saint-Denis mehren sich nicht die Autokolonnen Richtung Meer, sondern die Warteschlangen bei den Suppenküchen. "Dabei handelt es sich nicht nur um Stammkunden, sondern auch um ganz normale Angestellte", berichtet ein Gemeindevertreter in der Wochenzeitung "Le Canard enchaîné". Präfekt Georges-François Leclerc warnt bereits die Regierung, viele Einwohner hätten in den kommenden Wochen wohl Mühe, sich gut zu ernähren. Am härtesten betroffen seien in seinem Departement 15.000 bis 20.000 Personen, die in Wellblechsiedlungen, Auffangstationen und Migrantenheimen hausen müssen. (Stefan Brändle, 22.4.2020)