Am 27. April 1945 proklamierte die provisorische Staatsregierung unter Karl Renner vor dem Parlament in Wien die Wiederherstellung einer unabhängigen Republik Österreich. Die österreichische Unabhängigkeitserklärung wurde von den Vertretern der drei Gründungsparteien der 2. Republik – SPÖ, ÖVP und KPÖ – unterzeichnet und erklärte den "Anschluss Österreichs" an das Deutsche Reich für "Null und Nichtig". In der nachgesprochenen Aufnahme wird der 2. Weltkrieg  als "Besatzungskrieg, den kein Österreicher jemals gewollt hatte" bezeichnet.

Karl Renner
Foto: imago images / United Archives International

Die Regierung war vorläufig nur im sowjetisch besetzten Teil Österreichs anerkannt - im Westen fanden unterdessen noch Kriegshandlungen statt. Bereits am 4. April 1945 nahm der Sozialdemokrat Renner in Hochwolkersdorf Kontakt mit den russischen Besatzungstruppen auf. Seine Initiative, die angesichts der bedeutenden politischen Rolle, die Renner als Staatskanzler nach 1918 gespielt hatte, stieß auf Interesse der höchsten russischen Stellen. Nach seiner Rückkehr nach Wien am 21. April begann er mit den anderen sich formierenden Parteien mit konkreten Verhandlungen über die Bildung einer provisorischen Regierung. 1970 erinnert sich seine Tochter Karoline Deutsch-Renner an die Kontaktaufnahme mit der "Roten Armee".

Schon die Unab­hängigkeits­erklärung definierte Österreich als Opfer Hitler-Deutschlands - ein Bild, das für die Zweite Republik identitätsstiftend wurde. Dazu bei trug sicher auch die Moskauer Deklaration von 1943, in der die Alliierten fest­hielten, dass Österreich als erstes Land der Aggression Hitler-Deutschlands zum Opfer fiel, und das Wiedererstehen eines freien und unabhängigen Österreichs forderten.

Befreiung und Besatzung

In der Bevölkerung herrschte Angst und Unklarheit - wie werden sich die siegreichen alliierten Truppen, insbesondere die Rote Armee, als Besetzer verhalten? Von vielen werden sie als Befreier von einem verbrecherischen Regime erwartet, besonders in den Konzentrationslagern und Gefängnissen. "Wir wissen nur, dass wir das was wir hier erlebt haben in die Welt rausschreien müssen!", erzählt eine erlöste junge Gefangene am 15. April 1945 einem britischen Soldaten bei der Befreiung des KZs Bergen-Belsen. Die Stimme, die eindrücklich über die Zustände im KZ Auschwitz und KZ Bergen-Belsen berichtet, gehört Anita Lasker. Die deutsch-britische Cellistin ist eine der letzten bekannten Überlebenden des Mädchenorchesters von Auschwitz. Lasker wurde im Dezember 1943 nach Auschwitz deportiert.

Die Befreiung des oberösterreichischen Konzentrationslagers Mauthausen erfolgte am 5. Mai 1945 durch Soldaten der US-Armee, drei Tage vor der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht. Der 2. Weltkrieg in Europa war zu Ende. An diesem Tag wurde im kleinen niederösterreichischen Ort Ennsdorf eine BBC-Reportage aufgenommen. In Wien amtierte bereits seit zwei Wochen die provisorische Staatsregierung Österreichs, ohne allerdings das Geschehen im Lande beeinflussen zu können. Ein Major aus Pennsylvania berichtet von Truppen der Hitlerjugend, "die sich zwar ergeben haben, aber keinerlei Schuld zu empfinden scheinen, nach Zigaretten fragen und froh sind, von den Russen wegzukommen".

Bis zum Schluss realisierten viele nicht, dass der Krieg aussichtslos und verloren war, sicherlich auch aufgrund der Parteipropaganda. In einem kurzen Ausschnitt erinnert sich ein damals Jugendlicher an die letzten Kriegstage. Der O-Ton stammt aus der Feldforschungsstudie "Ottenschlag im Jahre 1945" des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien. Im Zuge des geschichtswissenschaftlichen Perspektivenwechsels der 1970er Jahre wuchs in den historischen Wissenschaften das Interesse, die Geschichte jener Teile der Bevölkerung zu erforschen, die tendenziell keine Schriftquellen hinterlassen.

Mit dem Anspruch, "Geschichte von unten" zu schreiben, fanden in Österreich erste Oral History-Projekte statt. Im Herbst 1974 ließ sich eine Forschungsgruppe von 14 Dissertantinnen für eine Woche in Ottenschlag nieder und sammelte über 50 Stunden Tonbandmaterial. Im Zuge des Projekts wurden etwa 120 Interviews mit all jenen Bewohnern des niederösterreichischen Ortes geführt, die sich auch im Jahre 1945 dort aufhielten. Die Interviews mit dem Schwerpunkt auf Erinnerungen an die letzten Kriegsmonate, das Kriegsende und die beginnende Besatzungszeit wurden zur Archivierung an die Österreichische Mediathek übergeben und digital langzeitgesichert. Einige Ausschnitte aus dem Bestand wurden in die Onlineedition "Österreich am Wort" aufgenommen, die weiteren vorhandenen Sendungen der Sammlung wurden digitalisiert und stehen in der Österreichischen Mediathek für wissenschaftliche Recherchen zur Verfügung.

Bis 1955 war Österreich von den Streitkräften der Alliierten besetzt und in vier Besatzungszonen eingeteilt. Wie nachzuhören ist, war das Verhältnis der Bevölkerung zu den Soldaten der Besatzungsmächte sehr zwiespältig. Ähnlich gestalten sich auch die Erinnerungen in den lebensgeschichtlichen Interviews des Projekts "MenschenLeben". Vor allem "den Russen", den Soldaten der Roten Armee, stand die Bevölkerung skeptisch gegenüber. Schließlich hatte die NS-Propaganda vorab schon vor den "asiatischen Horden" gewarnt, die vergewaltigend und plündernd durch die Straßen ziehen würden. Zwar erzählen Interviewpartnerinnen und Interviewpartner, die die Besatzungszeit in ihrer Kindheit erlebt haben, oft sehr positiv von den russischen Soldaten, doch gibt es sehr wohl auch Berichte von Übergriffen. So erinnert sich die Weinviertlerin Hermine Pestl, geboren 1933, an Frauen, die zum "Kartoffelschälen" geholt wurden.

Audiovisuelle Echos der "Stunde Null"

Das Jahr 1945 stellt einen wesentlichen Einschnitt dar, ein völliger Bruch in der Entwicklung - eine "Stunde Null" war es nicht. In einem Interview zum Thema "Jugend 1945", sagt Autor Wolfgang Kudrnofsky, die Stunde Null sei nicht mehr als eine "journalistische Phrase".
Die Formel von der "Stunde Null" erweckt den Anschein, dass die Zweite Republik gewissermaßen aus dem Nichts und mit nichts entstanden sei. Tatsächlich aber war die Wirtschaft und die gesamte Infrastruktur zwar angeschlagen, aber keinesfalls völlig zerstört. Mit dem Ende des Krieges stand man auch in Österreich vor der Frage des Umgangs mit Täterinnen, Tätern, Mitläuferinnen und Mitläufern des NS-Regimes. Von Beginn an zeigte sich, dass der Umgang mit der unmittelbaren Vergangenheit geprägt war von einem vor­sichtigen Lavieren zwischen verschiedenen Interessen, was einer konsequenten Aufarbeitung im Weg stand. Die Parteien griffen auf ihre alten Kader zurück, Mitläuferinnen und Mitläufer des nationalsozialistischen Regimes waren keineswegs aus allen einflussreichen Positionen verschwunden. "Die Entnazifizierung ist nicht ohne die Besatzungsmächte zu verstehen", so Historiker Gerhard Jagschitz im Interview mit der Österreichischen Mediathek. 

Aufräumarbeiten in Wien im Jahr 1945.
Foto: Bildarchiv Austria / Blaha

Die Luftangriffe der westlichen Alliierten zerstörten bzw. beschädigten rund 21 Prozent der Häuser Wiens. Der "Wiener Film: Die Fassung der Perle" - Wien nach dem Zweiten Weltkrieg, zeigt diese Kriegsschäden. Die Aufnahmen stammen von Albert Hackl, der im Herbst 1945 das zerstörte Wien mit seiner 9 1/2 mm-Kamera privat dokumentiert.
Freiwillige Aktionen, den Schutt in Wien zu beseitigen, gehörten für den Journalisten und Historiker Wolfgang Kos zu den dominierenden Erlebnissen dieser Zeit. Das Ziel war klar: "Wir Jungen bauen das neue Österreich."

Der sogenannte "Alltag" bestand aus Aufräumungsarbeiten, Mangelwirtschaft, Lebensmittelrationierungen, Hamsterkäufen und Tauschhandel. Aber auch die kleinen Vergnügungen kehrten wieder langsam in den Nachkriegsalltag in Österreich zurück. (Marion Oberhofer, 27.4.2020)

Marion Oberhofer ist Kulturjournalistin in Bozen und Wien und bloggt für die Österreichische Mediathek.

Hinweis: Die Ausstellung ist Teil der Akustischen Chronik des 20. Jahrhunderts der Österreichischen Mediathek, alle Dokumente bleiben dauerhaft online verfügbar.

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