Weniger Menschen auf den Straßen und Plätzen der Stadt, kritische Blicke: Wer sich draußen aufhalten darf, wird dieser Tage in aller Härte neu ausverhandelt.

Foto: Christian Fischer

Wien – In einem Park im 15. Bezirk in Wien spielen vier Kinder auf dem Rasen miteinander Ball. Einem Passanten missfällt das. Er bleibt stehen und wirft der daneben stehenden Frau – sie trägt Kopftuch – böse Blicke zu. Die Frau dreht sich weg. "Wenn die alle zsammwohnen, fress ich einen Besen", murmelt der Mann.

Der herrschende Ton auf den Straßen und Plätzen der Städte, in den Supermärkten und Geschäften in Zeiten des Coronavirus ist manchmal scharf. Seit der öffentliche Raum zu einem potenziell gesundheitsgefährdenden Ort geworden ist, schränken die gegen das Infektionsrisiko eingeführten Regeln des sogenannten Social Distancing die individuelle Freiheit stark ein. Das mag nötig sein, doch es fördert Unsicherheit und Stigmatisierung.

Kein "verlängertes Wohnzimmer" mehr

In der Stadt treffe das vor allem junge Migranten und kinderreiche, sozial schwache Familien, die Parks und freien Flächen schon in Vor-Corona-Zeiten "als verlängertes Wohnzimmer genutzt haben", sagt die Kommunikationswissenschafterin und Soziologin Irmtraud Voglmayr. Um den Distanzierungsvorgaben zu entsprechen, müssten sie ihr Verhalten besonders stark ändern.

Denn unterschiedliche Milieus haben unterschiedliche Zugänge zum öffentlichen Raum: Für Jugendliche aus der Arbeiterschaft, oftmals mit Migrationshintergrund, sei der öffentliche Raum einerseits Ort der Erholung von der Enge in der Wohnung zu Hause, sagt der Soziologe Christoph Reinprecht. Andererseits sei er aber auch Ort der Aneignung und Sozialisation.

Der Enge daheim entfliehen

"Familien in kleinen Wohnungen werden weiterhin rausgehen – müssen", sagt Reinprecht. Ihr Problem sei dann weniger die Furcht vor sozialer Nähe und die Angst vor dem Virus, sondern das Überschreiten von Regeln, die von den Sicherheitsbehörden eingemahnt werden.

Andere wiederum würden nun die Orte der Zerstreuung vermissen. Ihnen fehlte die soziale Vernetzung in Beisln und Lokalen – während die Angst vor polizeilichem Eingreifen für sie nicht im Fokus stehe. Wie Geselligkeit im öffentlichen Raum erlebt werde, unterscheide sich milieubezogen eben sehr stark, sagt Reinprecht. Diesen Schichten, die sich das Ausgehen und Einkehren ökonomisch leisten können, gehe es nicht um einen Platz, an dem man der engen Wohnung ausweichen kann – sondern etwa um den Genuss beim Café Latte am samstäglichen Wochenmarkt.

"Fühlen uns wie Eindringlinge"

Dort jedoch hat die Gastroszene seit Wochen geschlossen, nur mehr die Lebensmittelstandeln dürfen offen halten. Niemand kommt mehr, um ausgedehnt zu brunchen. Daher hat sich auch die Atmosphäre verändert. Der Großteil der Anwesenden trägt Maske, Eltern sind damit beschäftigt, ihre Kinder möglichst nahe bei sich zu halten.

Verunsicherung und Angst entstünden in diesem Zusammenhang immer dann, wenn eigentlich erwartet werde, dass der öffentliche Raum eine entspannende Atmosphäre ausstrahlen soll, sagt Reinprecht. Das betreffe vor allem Gruppen mit einem "erlebnisorientierten Zugang". "Wir bewegen uns jetzt anders in der Stadt – etwa so, wie wenn wir sonst in Stadtviertel kommen, die wir nicht kennen und wo wir uns sozial nicht ganz sicher fühlen. Wo wir uns als Eindringlinge vorkommen: Dort passt man auf, man beobachtet, wie andere reagieren oder ob man schief angeschaut wird."

Radikale Ansagen gegen Senioren

Und es gibt Gruppen, die tatsächlich verstärkt kritisch beäugt werden. Eine Szene aus einem Geschäft in der Linzer Innenstadt: Eine ältere Dame wartet darauf, bedient zu werden. Sie trägt Mundschutz und achtet aufs Distanzhalten – doch jemandem in der Schlange reicht das nicht: "Jetzt san die Alten schon wieder am Nachmittag statt in der Früh einkaufen!", beschwert sich eine Frau halblaut.

Die aktuelle Stimmung treffe die gesamte ältere Generation in einer davor ungeahnten Radikalität, sagt Soziologin Voglmayr. Auch ohne altersspezifische Ausgangsverbote würden in der Öffentlichkeit sichtbare ältere Menschen nun von vielen als Skandal empfunden.

Vorbei die Zeiten, in denen man gesund gebliebene sogenannte "junge Alte" – aktive Menschen zwischen 60 und 75 Jahren – umwarb: Das laut Medizinern vor allem ab 65 Jahren stark steigende Risiko, an Covid-19 zu sterben, führe zu einer uniformen Sichtweise und einem "tendenziellen Verschwinden der Alten aus dem Stadtraum", sagt Voglmayr. Dasselbe gelte für behinderte Menschen.

Spaltung zwischen Alt und Jung

Das aber führe zu einer sozialen Spaltung zwischen Alt und Jung und blende die Potenziale der Alten aus. Alte Menschen seien auf diesen Bewegungsraum angewiesen, grobe Mobilitätsinschränkungen bedeuteten Passivität, Isolation und Verfall. Mit dem Wiederaufflammen der Altenfeindlichkeit würden so alle Diversitätsbemühungen zunichtegemacht.

Auch laut Reinprecht ist eine der Schlüsselfragen, wie verhindert werden kann, dass durch das Social Distancing Vereinsamung und Vereinzelung entstehen. Der Rückzug von Risikogruppen berge große Gefahren, denn im öffentlichen Raum baue man normalerweise soziale Beziehungen auf, auch wenn diese zufällig zustande kommen. Dass derzeit kaum über Begleitmaßnahmen zum Social Distancing diskutiert werde, sei ein großes Problem.

Heterogenität als Qualität

Denn die Qualität des öffentlichen Raums liege in seiner Heterogenität. Ahnlich wie in der Schule treffen dort Menschen aufeinander, die ansonsten kaum zusammenkommen. "Das ermöglicht Begegnungen, die in einem Dorf oder einer Gated Community nicht möglich wären", sagt Reinprecht.

Insofern sei der öffentliche Raum zwangsläufig mit vielfältigem, städtischem Leben verbunden. Doch das produktive Chaos, das urbane Gebiete vor Corona trotz fortschreitender Kommerzialisierung an vielen Stellen auszeichnete, ist nun für längere Zeit dahin. Wer sich draußen aufhalten darf und wer nicht, wird derzeit in aller Strenge neu ausverhandelt. (Irene Brickner, Vanessa Gaigg, 26.4.2020)