In der Corona-Krise wird Spazierengehen wieder in.

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Nur vier Gründe gebe es momentan, das Haus zu verlassen – dieses Mantra wiederholt die Regierung gebetsmühlenartig bei fast jedem Auftritt. Während die ersten drei uns vor dem Verhungern, Verbluten und Verarmen schützen sollen, könnte man den vierten auch den "Schädelrettungsparagrafen" nennen. Es ist das Recht auf persönlichen Auslauf im Freien.

Wer irgendwie kann, joggt oder fährt Rad. Hundehalter bescheren ihren Tieren ungeahnte Gassigehen-Marathons. Wer aber keinen Hund und keine Kondition hat, der spaziert. Spazierengehen ist zum Volkssport in der Krise mutiert: Wenn man nirgendwo hingehen darf, geht man eben herum.

"Es hätte noch schlimmer kommen können und die Krise uns im trüben November ereilen können", sagt Bertram Weisshaar. Wobei die Situation für ihn selbst alles andere als schlimm ist, denn seine Disziplin erlebt gerade eine Hochkonjunktur. Herr Weisshaar ist nämlich Spaziergangsforscher.

Spazierengehen als wissenschaftliche Methode

Betram Weisshaar ist Spaziergangsforscher.
Foto: Thomas Eichler

Es ist wohl eine der rarsten Knospen im bunten Strauß der Orchideenwissenschaften. Entstanden ist die Disziplin in den 1980er-Jahren als Protest auf die Stadtplanung aus dem Elfenbeinturm. Politik und Architekten würden die Gebiete, die sie planen, gar nicht kennen und auf die Atmosphäre im Viertel keine Rücksicht nehmen, kritisierte damals der Schweizer Soziologe Lucius Burckhardt – und gründete kurzerhand die Spaziergangswissenschaft oder Promenadologie.

Die Methode soll die Sicht des Menschen mit seiner angeborenen Geschwindigkeit in die Stadtplanung einbringen. An einigen Universitäten wird das Fach auch heute noch unterrichtet, im Englischen schaffte es die Disziplin als "Strollology" immerhin in die Liga der Studien mit dem höchsten Potenzial zum Zungenbrecher.

Geht einfach!

Aber wie geht man aus wissenschaftlicher Sicht richtig spazieren? Es ist wie beim Sport: "Der einzige wirkliche Fehler, den man machen kann, ist, dass man es gar nicht tut", sagt Weisshaar. Ansonsten ist das Gehen das Archaischste, was wir tun können und – zumindest für Nichtpromenadologen – keine Wissenschaft. Die Fußmaschine braucht kein Kettenöl, keine Jahreskarte, und selbst die teuren Laufschuhe kann man sich sparen. Beim Spazieren geht es darum, dass es absichtlich zwecklos ist. Keinen Plan zu haben und sich von der Umgebung treiben zu lassen – genau das unterscheidet den Spaziergang vom Zweckweg.

Man kann sich aber ein Ziel vornehmen, etwa das älteste Gebäude der Stadt oder einen besonderen Baum, sagt Weisshaar. Das Ziel aufzugeben und dann ganz woanders zu landen ist "die hohe Kunst" des Spazierengehens, sagt Weisshaar.

Weniger allein mit Audioguides

Der puristische Spaziergänger verzichtet beim Gehen natürlich auf Podcasts oder Musik und lässt sich ganz unvoreingenommen auf seine Umgebung ein. Gegen Einsamkeit können aber gerade jetzt virtuelle Begleiter in Form von Audioguides helfen, die etwas über die Gegend erzählen. "Wenn man mehr erfährt, sieht man danach auch mehr", so der Profispazierer. Von der Stadt Wien gibt es etwa mehrere Grätzelguides zum kostenlosen Download.

Aber kann man seine Gedanken überhaupt noch frei kreisen lassen, wenn man das Spazierengehen zum Beruf gemacht hat? "Die Neugierde ist immer noch da", sagt Weisshaar, selbst wenn man manche Wege schon hundertfach beschritten hat.

Was ihm den Spaß am Spazieren aber regelmäßig vergällt, ist der Platz, der Autos im Verhältnis zu Fußgängern im Stadtbild zugemessen wird. "Wenn man das einmal bemerkt hat, möchte man an manchen tristen Orten einfach nur mit geschlossenen Augen weitergehen." Früher fuhrt Weisshaar selbst jeden Tag mit dem Auto. "Aber es ist eben wie mit den Ex-Rauchern, die jetzt oft die feinsten Nasen haben." (Philip Pramer, 24.4.2020)