Der Politikwissenschafter Hans Bergstrom erklärt im Gastkommentar, warum Schweden das öffentliche Leben nur wenig beschränkt hat und Migranten bei den Covid-19-Todesraten überrepräsentiert sind.

In Stockholm sind die Bars und Restaurants voll mit Menschen, die die Frühlingssonne genießen. Schulen und Sportstudios haben geöffnet. Die Regierung hat Ratschläge zur öffentlichen Gesundheitsvorsorge gegeben, aber nur wenige Sanktionen verhängt. Es gibt keine offiziellen Richtlinien, die das Tragen von Masken empfehlen.

Normaler Alltag in einem Stockholmer Park Mitte April. Der schwedische Sonderweg vermied drastische Einschränkungen.
Foto: EPA / Fredrik Sandberg

Während der ersten Zeit der Pandemie wurde das "schwedische Modell" von der Regierung und den meisten Kommentatoren stolz gefeiert. Sie behaupteten, es baue auf dem großen Vertrauen der Schweden in ihre Institutionen und Mitbürger auf. Ministerpräsident Stefan Löfven nutzte die Gelegenheit, an die Selbstdisziplin seiner Landsleute zu appellieren und sie zu bitten, auch ohne Anordnungen der Behörden verantwortungsvoll zu handeln. Laut der World Values Survey neigen die Schweden zu einer einmaligen Kombination: Sie vertrauen zwar ihren öffentlichen Institutionen, pflegen aber gleichzeitig einen extremen Individualismus. Wie es der Soziologe Lars Trägårdh ausdrückte, trägt jeder Schwede seinen eigenen Polizisten auf seiner Schulter mit sich.

Aber es ist nicht so, dass die Regierung bewusst ein Modell gegen die Pandemie entworfen hätte, das auf dem Sinn der Bevölkerung für bürgerliche Verantwortung beruht. Stattdessen wurden die Maßnahmen von Bürokraten entworfen und dann im Nachhinein als Ausdruck der schwedischen Tugenden verteidigt.

Regierung gab Verantwortung ab ...

In der Praxis lag die Hauptaufgabe der Bewältigung der Pandemie bei einem einzigen Mann: dem staatlichen Epidemiologen Anders Tegnell vom Nationalen Institut für Öffentliche Gesundheit. Tegnell begegnete der Krise mit seinen eigenen starken Überzeugungen im Hinblick auf das Virus: Zuerst glaubte er, es werde sich nicht über China hinweg ausbreiten, und dann, es reiche aus, einzelne aus dem Ausland importierte Fälle nachzuverfolgen. So wurde den tausenden Familien, die Ende Februar aus dem Skiurlaub in den italienischen Alpen zurückkamen, dringend empfohlen, wenn sie keine sichtbaren Symptome hätten, zur Arbeit und in die Schulen zurückzukehren – sogar wenn sich Mitglieder der eigenen Familie bereits infiziert hatten. Tegnell argumentierte, es gebe in Schweden keine Anzeichen für eine Übertragung innerhalb der Gemeinschaft, und damit seien auch keine allgemeinen Einschränkungen erforderlich. Die schwedischen Skigebiete blieben offen für die Reisenden und Partygäste aus Stockholm. Zwischen den Zeilen legte er nahe, ohne drakonische Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus könnte Schweden mit der Zeit eine Herdenimmunität erreichen. Diese Strategie wäre nachhaltiger für die Gesellschaft.

Unterdessen blieb die Regierung passiv. Dies liegt zum Teil an einer einmaligen Eigenschaft des politischen Systems im Land: einer starken Gewaltentrennung zwischen den Ministerien der Zentralregierung und den unabhängigen Behörden. Und im "Nebel des Krieges" war es für Löfven auch praktisch, Tegnells Behörde die Zuständigkeit zu überlassen. Dass diese ihren eigenen Maßnahmen so offensichtlich vertraute, ermöglichte es der Regierung, während der Wochen der Unsicherheit die Verantwortung abzugeben. Darüber hinaus wollte Löfven wohl sein Vertrauen in die Wissenschaft und Tatsachen zeigen und es – anders als US-Präsident Donald Trump – vermeiden, seine Experten infrage zu stellen. Von unabhängigen Experten hingegen wurden die Maßnahmen des staatlichen Epidemiologen stark kritisiert: 22 der prominentesten Professoren für Infektionskrankheiten und Epidemiologie veröffentlichten einen Kommentar in Dagens Nyheter, in dem sie Tegnell zum Rücktritt aufforderten und an die Regierung appellierten, ihre Handlungsweise zu ändern.

... und hinkt nun hinterher

Als sich das Virus bis Mitte März weit verbreitet hatte, sah sich Löfven gezwungen, aktiver zu werden. Seitdem läuft die Regierung den Entwicklungen hinterher. Ab 29. März verbot sie öffentliche Versammlungen mit mehr als 50 Menschen (vorher 500) und verhängte Sanktionen gegen Verstöße. Ab 1. April beendete sie Besuche in Pflegeheimen, nachdem das Virus bereits die Hälfte der Stockholmer Senioreneinrichtungen befallen hatte.

Aus mindestens drei Gründen hat sich der schwedische Ansatz als falsch herausgestellt: Wie tugendhaft die Schweden auch sein mögen, in jeder Gesellschaft gibt es Trittbrettfahrer, und wenn es um eine hochansteckende Krankheit geht, braucht es nicht viele von ihnen, um enormen Schaden anzurichten. Darüber hinaus wurden sich die Behörden nur schrittweise der Möglichkeit einer asymptomatischen Ansteckung bewusst – und dessen, dass Infizierte am ansteckendsten sein könnten, bevor sie Symptome entwickeln. Und drittens hat sich die Zusammensetzung der schwedischen Bevölkerungsstruktur verändert.

Wohndichte in Vorstädten

Nach Jahren extrem hoher Einwanderung aus Afrika und dem Nahen Osten sind 25 Prozent der schwedischen Bevölkerung – 2,6 Millionen aus einer Gesamtbevölkerung von 10,2 Millionen – von nichtschwedischer Herkunft. In der Stockholmer Region ist dieser Anteil sogar noch höher. Unter den Covid-19-Toten sind Einwanderer aus Somalia, Irak, Syrien und Afghanistan stark überrepräsentiert. Dies wurde teilweise einem Mangel an Informationen in den Sprachen der Einwanderer zugeschrieben. Aber ein wichtigerer Faktor scheint die Wohndichte in einigen Immigrantenvorstädten zu sein, die durch die engere körperliche Nähe zwischen den Generationen noch verstärkt wird.

Um die Folgen des "schwedischen Modells" vollständig beurteilen zu können, ist es noch zu früh. Die Covid-19-Todesrate ist in Schweden neunmal höher als in Finnland, fast fünfmal höher als in Norwegen und mehr als doppelt so hoch wie in Dänemark. Teilweise könnten diese Zahlen an Schwedens viel größerer Migrantenpopulation liegen, aber trotzdem sind die eklatanten Unterschiede zu seinen nordischen Nachbarn auffällig. Dänemark, Norwegen und Finnland haben bereits früh strenge Lockdown-Maßnahmen verhängt und eine starke politische Führung gezeigt.

Jetzt, wo Covid-19 in Pflegeheimen und anderen Einrichtungen wütet, musste die Regierung einen Rückzieher machen. Andere, die mit dem "schwedischen Modell" liebäugeln, müssen wissen, dass eine seiner entscheidenden Eigenschaften in einer höheren Zahl von Opfern besteht. (Hans Bergstrom, Übersetzung: Harald Eckhoff, Copyright: Project Syndicate, 26.4.2020)