Michael Jordan sitzt in einem hellen Ledersessel, runzelt die Stirn, denkt einen Augenblick nach und dann sagt er folgenden Satz: "Es kann schon sein, dass Leute, nachdem sie diese Doku über mich gesehen haben, sagen werden: 'Wow, das war aber kein netter Typ. Das war ein Tyrann'. Aber das ist die Meinung von Menschen, die selbst nie irgendwas gewonnen haben."

Michael Jordan in der Netflix-Doku "the last dance": So dominant haben ihn womöglich nur mehr wenige in Erinnerung.
ESPN

Jordan ist der beste Basketballer aller Zeiten, seine spektakulärsten Partien bleiben ewig in Erinnerung, aber er ist womöglich auch der unangenehmste Mitspieler, den man in einer Mannschaft haben konnte. Für Jordan ging es in seinem Leben immer nur ums Gewinnen. Um jeden Preis und ohne Rücksicht auf andere.

Nicht nur die Indiana Pacers konnten gegen Jordan nicht gewinnen.
Foto: imago images/Icon SMI

Für die Netflix-Dokumentation "The last dance" begleitete ein Kamerateam die Chicago Bulls über die gesamte Saison 1997/98. Und man darf vorweg sagen: Das Ergebnis, ein Zusammenschnitt aus fast 500 Stunden Videomaterial, ist richtig gut geworden. Sechs Folgen sind bereits erschienen, vier folgen noch, jeweils im Doppelpack an den kommenden zwei Wochenenden.

Es war das letzte Jahr einer sich in Auflösung begriffenen Basketball-Dynastie. Die sechste Meisterschaft sollte eingefahren werden, aber alle wussten: danach ist Schluss. Gecoacht wurden die Bulls von Phil Jackson, einem indianisch-buddhistisch angehauchten Intellektuellen und Ex-Profi, der beim Saisoneröffnungs-Training den Spielern einen laminierten Folder mit dem Titel "The last dance" in die Hand drückte. Inspiriert wurde Jackson von Martin Scorseses Rockfilm-Legende "The Last Waltz", die das Abschiedskonzert der kanadisch-amerikanischen Rockband "The band" begleitete.

Die Bulls gewannen sechs Meistertitel in acht Jahren (1991-93, 1996-98). Und es hätten noch mehr werden können, wäre da nicht der bizarre Machtkampf zwischen dem Coach, seinen Spielern und Generalmanager Jerry Krause gewesen. Krause wollte den Vertrag mit Coach Jackson nicht verlängern, das mageren Vertrag von Scottie Pippen nicht aufbessern. Jordan wollte ohne Jackson nicht mehr für die Bulls spielen.

Bild nicht mehr verfügbar.

"Jumpman": Michael Jordan veränderte die Ikonographie einer ganzen Sportart.
Foto: AP/Stewart

Krause übermittelte seine Kriegserklärung in einem Interview: "Nicht Spieler gewinnen Meisterschaften, Organisationen gewinnen Meisterschaften." "Ich habe nicht gesehen, wie eine Organisation in Utah mit einer Grippe gespielt hat", antworte Jordan bei seiner legendär nachtragenden Rede zur Aufnahme in die Basketball-Hall of Fame und bezog sich damit auf sein legendäres "Flu Game".

Krause wollte öffentliche Anerkennung um jeden Preis, Jordan verweigerte sie ihm nicht nur, er schikanierte ihn auch noch öffentlich, was in der Doku mehrmals zu sehen ist. Krause war der Architekt des Teams und er zerstörte es auch. Hätten die Bulls die Cash-Cow Jordan, Pippen und Jackson gehalten, was wäre gewesen? Es ist, als ob sich die Rolling Stones am Höhepunkt ihrer Karriere getrennt hätten.

Bild nicht mehr verfügbar.

Jordan machte sich über die zwergenhafte Statur von Manager Jerry Krause lustig.
Foto: AP/Elias

Warum es Jordan in einer Liga, in der zunehmend die Spieler das Sagen haben, nicht auf einen persönlichen Machtkampf mit Krause (er oder ich) hinauslaufen ließ, bleibt rätselhaft. Denn Jordans von Ehrgeiz zerfressenes Ego machte auch sonst vor nichts halt. In "The last dance" werden die dunklen Seiten Jordans, die der Journalist Sam Smith 1992 in seinem Buch "The Jordan Rules" erstmals publik machte, bestätigt.

Jordan schlug Mitspielern im Training ins Gesicht, passte ihnen Bälle absichtlich schlecht, um ihre Schwächen aufzuzeigen. Einmal verlor er eine Tischtennis-Partie gegen Dreamteam-Kollege Christian Laettner bei den olympischen Spielen 1992 in Barcelona. Daraufhin ließ sich Jordan einen Tischtennis-Tisch in sein Hotelzimmer stellen und trainierte so lange bis er Laettner schlug. Jordan war spielsüchtig, schlug sich Nächte in Casinos um die Ohren und wettete sogar gegen seine eigenen Mitspieler, welcher Koffer am Flughafen-Rollband zuerst erscheint – er bestach natürlich zuvor das Bodenpersonal. Auf dem Parkett lieferte er aber immer ab.

Die Rolling Stones des Basketballs: Dennis Rodman, Scottie Pippen, MJ, Ron Harper, Toni "The waiter" Kukoc.
Foto: imago/zuma press

Regisseur Jason Hehir konnte auf Material einer Filmcrew zurückgreifen, die Jordan, Pippen und Jackson während der ganzen Saison ohne Einschränkungen mit der Kamera begleitet hatte. Das wäre in der heutigen Zeit, wo hinter jedem offiziellen Statement eines Sport-Stars ein schön frisierter Social Media Manager steckt, undenkbar. In Zeiten von Twitter, wo vermeintliche Skandale nur weniger Minuten ins Netz brauchen, sind Zugänge zu populären Sportarten für Journalisten restriktiver denn je.

Beeindruckend ist die Zahl der Interviewpartner. Neben Spielern, Trainern und Vereinsfunktionären kommen ehemalige US-Präsidenten ebenso zu Wort wie Verwandte der Spieler und Journalisten. Aus den Erzählungen ensteht ein stimmiges Bild wie dieses Team entstand, wie es erfolgreich wurde, und warum es auseinander fallen musste. Nur der persönliche Rückblick von Jerry Krause fehlt. Der Ex-Generalmanager war vor der Entstehung der Doku im Jahr 2017 verstorben.

Warum das Filmmaterial erst nach über 20 Jahren veröffentlicht wurde, darüber ranken sich Geschichten und Gerüchte. Jordan soll eine Verwendung des Materials lange blockiert haben, bei "the last dance" dürfte er die Zügel dann recht fest in der Hand gehabt haben. Dass die Doku erst nach dem Tod Krauses erschien, könnte auch kein Zufall gewesen sein. Anfang der Nullerjahre sollte die Serie für weniger als zehn Millionen Dollar von einem Bieter produziert werden. Zu teuer damals. Heute wäre das ein Schnäppchen.

Gegen Ende der Serie wird der stets unnahbare Jordan gar ein Stück weit greifbar, als er, den Tränen nahe, sinngemäß gefragt wird, ob es das wert gewesen ist: Der Erfolg im Tausch gegen den Ruf eines brutal ehrgeizigen Psychos. Der aber zumindest im Sportolymp ganz oben sitzt. (Florian Vetter, 4.5.2020)