Im Gastkommentar tritt der Rechtssoziologe Arno Pilgram dafür ein, eine Debatte über die Krisen- und Zukunftsfähigkeit des Strafvollzugs zu führen.

Was die Corona-Krise in den Justizanstalten bewirkt, darüber vermittelt Außenstehenden die Homepage des Justizministeriums einen Eindruck. Dort wird in so neutralem Ton informiert, dass man die Beschönigung der Verhältnisse nicht sofort wahrnimmt. Offensichtlich wird, dass sich das Alltagsleben in den Anstalten massiv verändert. Keine Besuche mehr, Telefonie knapp wie immer, keine Aus- und Freigänge, Herunterfahren der Beschäftigung auf "Hausarbeit", Ausfall organisierter Freizeitveranstaltungen. Eine nicht unbegründete Sorge um die Ruhe in den Anstalten unter diesen Verhältnissen verraten vage Andeutungen von Beschäftigungsersatz und gelockerten Kriterien für "Vergünstigungen" an Insassen sowie die Ankündigung von weiterhin ausbezahlter Arbeitsvergütung für arbeitswillige, aber jetzt arbeitslos gewordene Gefangene.

Ratlose Sorge

All das, was den modernen Strafvollzug als Resozialisierungsmaßnahme und dadurch und nur dadurch als menschenrechtskonform qualifizieren will, fällt augenblicklich den Sicherungsmaßnahmen gegen Corona zum Opfer, wie es auch zuvor schon viel zu schnell und gerne Sicherheitsmaßnahmen nachgeordnet wurde. Dies zeigt, dass der Strafvollzug nur einen dünnen Firnis Resozialisierungsvollzug besitzt, der bei erster Gelegenheit ab ist. Überlegungen, wie man Resozialisierung ebenso ernsthaft wie die aktuellen gesundheitlichen Sicherungsmaßnahmen auch jetzt noch weiterverfolgen will, fehlen komplett. Es herrscht nur die eher ratlose Sorge, wie man einem Aufruhr durch "atmosphärische Krisenintervention" vorbeugt. Dabei ginge es gegenwärtig darum, jeden Strafvollzug zu vermeiden oder auszusetzen, der nicht als Sicherheitsmaßnahme für die Gesellschaft gegenüber hochgefährlichen Personen zwingend geboten erscheint. Geschieht dies nicht, hat man sich vom Resozialisierungsziel verabschiedet.

Die türkis-grüne Krisenbewältigung zeigt die Bereitschaft, sich von Dogmen und Regierungsprogrammatik zu verabschieden. Grundsatztreue und Nullbeweglichkeit in einigen wenigen Bereichen, vor allem der Flüchtlings- und Kriminalpolitik, scheinen dieses überraschende wie irritierende Bild ausbalancieren zu müssen. Eine solche Leistung zu erbringen, ist ausgerechnet eine grüne Justizministerin bereit. Hier hätte man sich erwarten können, dass sie die Chance ergreift, die Krisen- und Zukunftsfähigkeit gerade auch des Strafvollzugs öffentlich zu hinterfragen.

Breite Sensibilisierung

Die Furcht davor könnte von einer sozialpsychologischen These genährt sein. Georg Rusche und Otto Kirchheimer haben in ihrem Standardwerk Sozialstruktur und Strafvollzug (1939) eine "Verschlechterungsthese" aufgestellt, wonach es zur Glaubwürdigkeit der Moralpredigten oder der strafrechtlichen Abschreckung immer einer sichtbaren Schlechterstellung von Verbrechern gegenüber den untersten Segmenten der Arbeitsbevölkerung bedurfte. So dürfte man heute wenig Gnade gegenüber Straftätern und Gefangenen erwarten: Wenn alle "eingesperrt" sind, muss es den verurteilten Eingesperrten eine deutliche Spur schlechter gehen, um uns allen das Leid an den eigenen Freiheitsbeschränkungen erträglicher zu machen. Überlegungen zu Haftverschonung, -erleichterung oder -verkürzung sollten nach dieser Auffassung gerade jetzt auf wenig Verständnis stoßen.

Die Gegenthese wäre, dass die erstmalige verallgemeinerte Erfahrung der Durchschnittsbevölkerung mit Freiheitsbeschränkung mit einer Sensibilisierung für die Gravamina der Quarantänesituation innerhalb der Gefängnisse einhergeht. Wenn plötzlich jeder und jede erlebt, wie angewiesen er und sie auf Telekommunikation und Social Media ist, wird man deren Ermangelung über größte Zeitstrecken als besonders grausam empfinden, umso mehr, wenn die gefängnisspezifischen Quarantäne- und Sicherheitsvorkehrungen auch die ohnehin spärlichen Besuchskontakte unterbinden. Wer den Luxus von großen Wohnungen, Gärten, privaten und öffentlichen Bewegungsräumen kennt (oder seiner wegen plötzlichen Mangels gewahr wird), der wird einen so gut wie ganztägigen Zelleneinschluss (oft mit ungeliebten anderen) als unerträglich empfinden können. Wer selbst mit den emotionellen Folgen – Langeweile und Stress, Depression, Angst oder Aggression – von Immobilität, erzwungener Nähe, Unterbeschäftigung oder Beschäftigungslosigkeit sowie großer Zukunftsunsicherheit konfrontiert ist, dem wird die Gefängnis- und Zellenatmosphäre als bedrückend und bedrohlich nachvollziehbar werden, jedenfalls solange noch Spielraum für etwas Empathie bleibt.

Die Corona-Pandemie erschwert unser aller Leben, dasjenige in Haft jedoch überproportional.
Foto: Elmar Gubisch

Insofern würden politisch-öffentliche Überlegungen zum adäquaten Umgang mit Freiheitsstrafen unter dem Vorzeichen der Pandemie bei entsprechender Kommunikation möglicherweise doch nicht nur auf Ablehnung stoßen. Covid-19 erschwert nicht nur unser aller Leben, sondern auch jenes in Haft nochmals überproportional und lässt Freiheitsstrafen zu einer auch menschenrechtlich besonders problematischen Zumutung werden. Warum – wo immer möglich – keine gnadenweisen generellen zeitlichen Abschläge auf sie, warum keine allgemeinen Antrittsaufschübe, warum Verarmte Ersatzfreiheitsstrafen absitzen lassen, warum nicht prinzipiell eine zweite, nachträgliche Prüfung von Alternativen zum Freiheitsentzug vorsehen – nicht zuletzt auch zur Entlastung der überfüllten Anstalten und ihres Personals?

Die Erlasskandidaten

Das Angebot an zu Freiheitsstrafen Verurteilte, etwa freiwillig gemeinnützige Arbeit zu leisten, käme heute der Bevölkerungsmehrheit nicht unplausibel vor, zumal es an unterstützender Arbeitskraft in kritischen Versorgungsbereichen mangelt, so etwa in der Erntehilfe oder im Sanitäts- und Pflegebereich. Gefangene gesellschaftlich etwas wiedergutmachen zu lassen, ihnen zur Abwechslung eine anerkannte "Heldenrolle" im Alltag zu ermöglichen könnte auch eine rehabilitative und integrative Funktion erfüllen. Wenn die kriminalrechtliche Reaktion an "Strafcharakter" einbüßt, büßt sie nicht an Resozialisierungswirkung ein, in aller Regel gilt das Gegenteil.

Auf wen könnten sich solche Maßnahmen erstrecken? Im Zentrum könnten alle Jugendlichen und ebenso alle Alten – über 60-Jährige werden kaum mehr rückfällig und sind eine Corona-Risikogruppe – stehen, dazu Frauen. Ein weiteres Kriterium könnten Erst(freiheits)strafen und Strafen kürzerer Dauer sein (bis zu einem Jahr), unter Umständen auch längere Strafen, die sich aus einzelnen, wiederholten "Bagatellverurteilungen" ergeben, sowie teilbedingte Strafen. Alle Strafen, die schon zur Hälfte, oder wenigstens zu zwei Dritteln verbüßt sind, wären ebenfalls Erlasskandidaten. Ist die Strafe noch nicht so weit abgebüßt, wären im einzelnen Fall geeignete Diversionsmaßnahmen in Betracht zu ziehen. Es gälte natürlich auch zu überlegen, Ersatzfreiheitsstrafen komplett zu erfassen. Oder auch Strafen von Personen, denen nach Verbüßung Abschiebung bevorsteht, sofern eine solche derzeit durchführbar ist. Für Untersuchungsgefangene wären ähnliche Maßstäbe anzulegen wie für Strafgefangene.

Dogmen hingerfragen

Freilich müsste man über Ausschlusskriterien nachdenken. Ein Teil der von vorbeugenden Maßnahmen (Paragraf 21 Absatz 1 und 2) Betroffenen fiele vermutlich darunter, ein Teil der schweren Gewalt- und Sexualstraftäter. Aber auch bei diesen Fallkategorien wären begleitende Maßnahmen wie Bewährungshilfe eine Chance zur Erweiterung des Kreises. Anhand der in der Justiz vorhandenen Strafvollzugsdaten ließe sich die Größe dieses Personenkreises informiert schätzen.

Der Corona-Krise wird zugetraut, ein Überdenken aller liebgewonnenen Dogmen und Gewohnheiten zur Folge zu haben. Warum nicht auch in der Kriminal- und Strafenpolitik die Bereitschaft zu Veränderungen ausnützen, warum hier nicht schnell hinzusehen und zu reagieren beginnen, bevor mit der erwartbar schwierigen "Normalisierung" der Verhältnisse die alte Trägheit in diesem Politikbereich zurückkehrt? (Arno Pilgram, 27.4.2020)