Covid-19 hat uns mit einer für undenkbar gehaltenen Geschwindigkeit dazu gebracht, eine Ökonomie der Minimalismen zu betreiben, vielleicht sogar ein wenig weniger davon. Nebst den gesundheitlichen Risiken, die mit der derzeitigen Pandemie verbunden sind, sind es aber auch interessante neue Konstellationen, die nun zutage treten. Nicht allein, dass sich die Luftschadstoffwerte rasant verringern, wird plötzlich auch die Frage nach der Nützlichkeit unterschiedlicher Tätigkeiten aufgeworfen, werden gewisse Berufe – des Gesundheitssektors, der Pflege oder auch der täglichen Versorgung – mit besonderem Applaus bedacht. Dies mag Balsam für die Seele sein, eine Gehaltsaufbesserung auf Dauer ist damit aber für Supermarktkassierinnen und -kassierer oder Pflegekräfte noch keineswegs gesichert.

Wenn ein Artikel in der "Zeit" mit den Worten beginnt: "In der Krise offenbart sich: Systemrelevant sind die Unterbezahlten", so wird damit ganz essenziell die Frage nach tradierten Entlohnungsschemata aufgeworfen. Wer wie viel für seine/ihre Arbeitsleistung erhält, ist ein nicht zu vernachlässigender Faktor ökonomischer Ungleichheit. Aber wenn auch die systemrelevanten Berufe in der "Zeit" als "neue Elite" ausgerufen werden, so bleibt doch die Frage, ob sich genau diese Elite denn auch elitenhaft Gehör wird verschaffen können, wenn der jetzt so lautstarke Applaus verebbt sein wird.

Gesellschaft muss Ungleichheit rechtfertigen

Wenden wir uns der Frage zu, wie unterschiedliche Einkommen – dieser zentrale Faktor ökonomischer Ungleichheit – in der Gesellschaft legitimiert werden; welche Ideologie hier denn greift. Eine ganze Reihe von Wissenschaftsdisziplinen hat sich in den letzten Jahren, ja Jahrzehnten, mit der diskursiven Formation von Ideologie beschäftigt. Nicht so die Ökonomie – denn mit der dominanten Erzählung von hard facts, von ökonometrischer Präzision, zuweilen sogar von Wertfreiheit ist solch eine Herangehensweise nicht kompatibel. Allerdings: Etwas aus dem Erkenntnisinteresse auszuschließen, heißt noch keineswegs, dass dies nicht auch existiere: Auch die Ökonomie ist Ideologie-behaftet. Umso verdienstvoller ist es, dass Thomas Piketty sich in seinem neuen Buch "Kapital und Ideologie" genau mit diesem Themenkomplex auseinandersetzt: Er macht die ideologische Untermauerung von ökonomischen Ungleichheiten zum Thema, zeichnet unterschiedliche ideologische Ausprägungen über diverse Epochen und Länder hinweg nach.

Gleich zu Beginn formuliert er seine zentrale These: "Jede menschliche Gesellschaft", so Piketty, "muss ihre Ungleichheiten rechtfertigen." Diese Findung muss erfolgen, ohne das jeweilige politische und soziale Gebäude in seinen Grundstrukturen zu gefährden. "So bringt jedes Zeitalter eine Reihe kontroverser Diskurse und Ideologien hervor, um Ungleichheit in der Gestalt, in der es sie gibt oder geben sollte, zu legitimieren und wirtschaftliche, soziale und politische Regeln aufzustellen, die geeignet sind, das gesellschaftliche Ganze zu organisieren. Dieser zugleich intellektuellen, institutionellen und politischen Auseinandersetzung entspringen im Allgemeinen eine oder mehrere herrschende Erzählungen, auf die sich die bestehenden Ungleichheitsregime stützen."

Wird Kassapersonal nach der Krise mehr Gehalt bekommen?
Foto: APA/AFP/PASCAL GUYOT

Diese unterschiedlichen Legitimierungen werden auf intellektueller, institutionalisierter und politischer Ebene nachgezeichnet sowie in eine historische Perspektive seit dem ausgehenden Mittelalter gestellt. Dazu werden (wie auch schon in seinem Bestseller "Das Kapital im 21. Jahrhundert") vorhandene Daten und deren statistische Aufbereitung herangezogen. Aber es kommen auch Parlamentsdebatten, Parteiprogramme, Zeitungsartikel, akademische Texte oder Zitate von zeitgenössischen Literatinnen und Literaten zum argumentativen Einsatz.

So wird beispielsweise dargestellt, wie in den sogenannten "trifunktionalen Gesellschaften" im mittelalterlichen Frankreich und Großbritannien existierende Ungleichheiten durch die politisch-militärischen und religiösen Pflichten, die der Klerus und der Adel gegenüber der Gesellschaft zu erfüllen hatten, legitimiert wurden. Aktuelle Ungleichheiten hingegen – und damit sind wir wieder im Hier und Jetzt – werden vor allem durch die meritokratische Erzählung legitimiert. Dieser Ideologie nach sind bestehende Ungleichheiten gerechtfertigt (ja sogar notwendig), da höhere Einkommen und Vermögen durch Fleiß, Anstrengung und Innovationsgeist zustande kommen und auf dem (freien) Zugang zu Märkten und Eigentum beruhen.

Die Rolle der Medien

Eine formative Institution moderner Gesellschaften, die in Pikettys neuer Publikation allerdings nur randständig angesprochen wird, aus unserer Perspektive jedoch eine zentrale Rolle in der Verbreitung und Aufrechterhaltung von Ideologien spielt, sind die Medien. Sie schaffen Narrative und Diskurse über gesellschaftliche Prozesse, welche zur allgemeinen Bewusstseinsbildung wesentlich beitragen. Medien verbreiten dabei nicht nur Informationen (wie dies oft im Mainstream der medienökonomischen Forschung als deren alleinige Funktion angenommen wird), sondern tragen ganz grundlegend zur Konstruktion von sozialer Realität bei. Die Rolle des Mediensystems ist damit allumfassend in dem Sinne, dass die uns bekannte Form der "Realität" ohne das Mediensystem selbst oft nicht denkbar beziehungsweise vorstellbar wäre. Mit anderen Worten: Menschen sind auf das Mediensystem und auf mediale Repräsentation verwiesen, da die reale Umwelt insgesamt zu komplex und zu vielgestaltig ist, um direkt erfahrbar zu sein.

Daraus bestimmt sich auch der zentrale Stellenwert, der den Medien in der Herstellung und Verfestigung von Ideologien zukommt, welche ökonomische Ungleichheiten in der Gesellschaft festschreiben. Dazu im Folgenden einige Beispiele:

Im Rahmen eines von uns durchgeführten internationalen Forschungsprojekts wurde die Berichterstattung zur ökonomischen Ungleichheit in Tages- und Wochenzeitungen in Österreich, Deutschland, Irland und Großbritannien untersucht. Eine Analyse der Framings dieser Berichterstattung – der Deutungsrahmen, welche Teilaspekte der Realität in einem kommunikativen Kontext hervorgehoben werden, während andere dabei in den Hintergrund treten – zeigt, dass der Referenz zu gesellschaftlichen Leitbildern ein überaus prominenter Stellenwert zukommt. Hierbei handelt es sich um die Bezugnahme auf gesellschaftliche Konventionen wie eben das Leistungsprinzip. In auffallender Weise stellt dies das am häufigsten bemühte Diskursmuster dar, sei es, um damit die bestehenden Ungleichheiten zu rechtfertigen, in geringerem Ausmaße auch, um den vorgeblichen Verlust des Leistungsprinzips als eigentliche Begründung für ökonomische Ungleichheiten festzumachen.

Wird in ebendieser Berichterstattung Umverteilungspolitik angesprochen, werden mögliche Maßnahmen gegen die anhaltend hohe und teilweise steigende ökonomische Ungleichheit aufgegriffen, so sind wir mit weiteren ideologiegeleiteten Befunden konfrontiert. Finden Umverteilungsmaßnahmen (wie höhere Vermögens- und Einkommenssteuern) Erwähnung, so werden sie oft als problematisch, ja ungeeignet abgetan. Darüber hinaus lassen sich linguistische Zuspitzungen und aggressiv ablehnende Formulierungen vorfinden, die der Leserschaft die Gefährlichkeit, Unmöglichkeit und Ineffizienz solch einer höheren Besteuerung vor Augen führen sollen.

So werden zum Beispiel "die Reichen" gern als Opfer ohne Handlungskompetenz porträtiert, die ein "aggressiver", "überwältigender" Staat den Risiken durch Kapitalentnahme und der dadurch bedingten Gefahr des ökonomischen Scheiterns aussetzt. Derlei Formulierungen und Suggestivfragen erschweren eine weitere sachliche Debatte um Fragen der Besteuerung doch erheblich, wie geradezu paradigmatisch in einem Beitrag in der "Sunday Times" vom 27. April 2014 zum Ausdruck kommt: "This is bizarre. Have we learnt nothing since the 1970s about the impact of very high tax rates on growth and incentives? Does anybody not think that the prospect of eye-wateringly high tax rates on success will stop people striving for success, taking the risks needed to stimulate innovation?"

Schlussfolgerung: Eine sachliche Diskussion zu Umverteilungsmaßnahmen

Vor wenigen Tagen hat Österreichs Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) zur Abmilderung der Krise eine Wiedereinführung der Erbschaftssteuer "für Millionäre und Milliardäre" gefordert, und ist damit auf heftige Ablehnung seines Koalitionspartners ÖVP gestoßen. Wie lange auch immer unser Corona-Shutdown noch dauern wird, und wie stark daher die daraus resultierende Rezession auch ausfallen wird, vermag derzeit niemand zu sagen, wenngleich es bereits eine Vielzahl durchaus unterschiedlicher Prognosen dazu gibt. Was wir aber wissen, ist, dass es – schon jetzt – einen großen Unterschied macht, ob wir uns im Eigenheim mit Garten der Ausgangsbeschränkung aussetzen, in der Dachgeschoßwohnung mit Terrasse, oder ob wir in einer beengten Zweizimmerwohnung ohne direktes Sonnenlicht verharren müssen, wie dies auf einen Großteil der von der deutschsprachigen Qualitätspresse neuerdings beschworenen "Systemerhalter" zutreffen mag.

Viel wird derzeit von "Miteinander" und "Zusammenhalt" geredet, und, wer würde es bezweifeln, diese sind auch unbedingt notwendig. Aber ebenso notwendig ist, in der neuen Normalität, die nach Corona eine andere sein wird, die großen Unterschiede in den ökonomischen Möglichkeiten von Personen und Haushalten nicht aus den Augen zu verlieren und sie nicht – wie die Krise nun wieder einmal gezeigt hat – durch rein ideologiegeleitete Leistungsmythen zu rechtfertigen.

Im Gegenteil: Wir werden gut beraten sein, aktiv zur Verbesserung der Lage der ökonomisch "unteren" Bevölkerungsschichten tätig zu werden. Denn sie verrichten wichtige, ja systemrelevante Tätigkeiten, ohne die unsere Gesellschaft nicht funktionieren kann. Dass davon etwa drei Viertel Frauen sind, passt zusätzlich in die noch immer patriarchale Ausrichtung von Wertezuschreibungen über Entlohnung. Daher braucht es eine sachliche Diskussion zu Umverteilungsmaßnahmen wie Erbschafts- oder Vermögenssteuer, und auch eine Auseinandersetzung um Mindestlöhne und eine offensive Lohnpolitik. Eine differenzierte mediale Debatte könnte Wesentliches dazu beitragen. (Andrea Grisold, Hendrik Theine, 28.4.2020)

Andrea Grisold ist Professorin für Volkswirtschaftslehre und Vorständin des Instituts für Heterodoxe Ökonomie an der WU Wien. Ihre Forschungsgebiete sind: politische Ökonomie der Medien; feministische Ökonomie; heterodoxe ökonomische Schulen.
Foto: Michael Schmid
Hendrik Theine ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Heterodoxe Ökonomie an der WU Wien. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich politische Ökonomie (der Medien), Plurale Ökonomie und Klimakrise.
Foto: Michele Pauty