Überschriften wie "Lateinamerika brennt" oder "Rebellion gegen die Eliten" prangten Ende 2019 auf diversen Titelseiten. Die zeitgleichen Proteste in zahlreichen lateinamerikanischen Ländern hatten das mediale Interesse geweckt. Ausgelöst durch die angekündigten Sparmaßnahmen der Regierung Lenín Morenos begann die Protestwelle Anfang November in Ecuador. Wenig später starteten die über Monate anhaltenden Mobilisierungen in Chile, es folgten Proteste in Bolivien und Kolumbien. Trotz ihres zeitgleichen Aufkommens waren die Proteste recht unterschiedlich. Die Antwort der Regierungen fiel hingegen häufig gleich aus: Repression, Betretungsverbot öffentlicher Räume, Ausgangssperren. Die Proteste gingen trotzdem weiter, und die Debatten über einen neuen Zyklus sozialer Bewegungen in Lateinamerika begannen.

Mitte März nahmen die Proteste ein abruptes Ende. Die Covid-19-Pandemie machte auch vor Lateinamerika nicht halt. Die Regierungen zögerten nicht, nun strikte Ausgangssperren zur Eindämmung der Pandemie zu verhängen. Aber auch darüber hinaus warf die Pandemie die politische Agenda weitestgehend über den Haufen. In Kolumbien entfiel der für Ende März geplante Nationalstreik, das Referendum über eine neue Verfassung (26. April) wurde in Chile auf Ende Oktober verlegt, die Wahlen in Bolivien (3. Mai) ohne präzises Datum nach hinten verlegt. Die Ausgangsbeschränkungen werden unter anderem in Chile, Bolivien und Peru vom Militär überwacht, bei Nichteinhaltung drohen Freiheitsstrafen. Videos von Polizisten und Polizistinnen, die gegen scheinbare "Quarantänebrechende" in den Armenvierteln vorgehen, machen die Runde.

Soziale Schieflage der Ausgangssperren

Das Problem: Die Maßnahmen treffen besonders die ärmeren Bevölkerungsteile. Ein wichtiger Teil der Bevölkerung sieht durch die Vorkehrungen zur Eindämmung der Pandemie seine tägliche Existenzsicherung gefährdet. Für viele ist das tägliche Einkommen die Voraussetzung, sich alltägliche Nahrungsmittel leisten zu können. Mit den Ausgangsbeschränkungen fällt dieses überlebensnotwendige Einkommen nun weg. Obwohl die Regierungen zum Teil versuchen, auch den informellen Sektor und vulnerable Bevölkerungsgruppen mit monetären Hilfeleistungen oder Nahrungsmittel zu unterstützen, reichen die Maßnahmen nicht. Denn die genannten Bevölkerungsgruppen sind kein Randphänomen, sondern ein strukturelles Charakteristikum der lateinamerikanischen Wirtschaften.

"Ich bin hungrig. Hilf mir mit dem, was dir Gott in dein Herz gibt."
Foto: APA/AFP/JOSE SANCHEZ

Lateinamerika ist – trotz Verbesserungen in den letzten zwei Jahrzehnten – auch 2020 weiterhin die Region mit der größten Ungleichheit weltweit. Diese Ungleichheit war mitursächlich für die Proteste Ende 2019 und könnte sich nun weiter verschärfen. In ihrer ersten Abschätzung der wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie warnt die Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (Cepal) vor den Auswirkungen auf diejenigen Sektoren, die bereits jetzt wenig geschützt sind. So lag etwa der Anteil der informell Beschäftigten in der Region 2016 bei 53,1 Prozent. Die ILO beziffert für das gleiche Jahr den Anteil in Bolivien sogar mit 68,2 Prozent und in Ecuador mit 63,4 Prozent.

Populare Ökonomie: Kein Randphänomen

Wie diese Zahlen bereits vermuten lassen, tragen diese informellen Tätigkeiten einen gewichtigen Anteil zu den lateinamerikanischen Wirtschaften bei. Nach jüngsten Berechnungen entsprach ihre Größenordnung zwischen 2010 und 2015 im Durchschnitt 33,4 Prozent des BIP. In Kolumbien beziffert die gleiche Studie den Wert für 2015 auf 26 Prozent und in Ecuador auf 30 Prozent. Für Bolivien kommt sie sogar auf 46 Prozent.

Im Anbetracht dieser Größenordnungen wird offensichtlich, dass ein gewichtiger Teil der Bevölkerung in der Region von diesen Wirtschaftskreisläufen abhängt. Sie sind integraler Bestandteil der dortigen Ökonomien und können nicht lediglich als Randphänomene betrachtet werden. Aus diesem Grunde spricht man in Lateinamerika seit einigen Jahren auch von einer popularen Ökonomie (economía popular), als Versuch eines positiv definitorischen Begriffs. Einen sehr breiten Definitionsvorschlag machen etwa die brasilianischen Politikwissenschafterinnen Sarria Icaza und Tiribia, die die populare Ökonomie beschreiben als "die Gesamtheit der wirtschaftlichen Aktivitäten und sozialen Praktiken, die von den popularen Sektoren durch den Einsatz der eigenen Arbeitskraft und der zur Verfügung stehenden Ressourcen vollzogen werden und das Ziel verfolgen, materielle und immaterielle Grundbedürfnisse zu befriedigen." Weitere häufig anzutreffende Charakteristika sind der niedrige Kapitaleinsatz und die geringe Produktivität. Dabei kann die populare Ökonomie weder als rein funktional für die formelle Wirtschaft betrachtet werden, noch ist sie vollkommen abgekoppelt von dieser. Das Oszillieren zwischen Einbindung und parallelen Wirtschaftskreisläufen, die nicht über das Lohnverhältnis funktionieren, ist ihr Wesensmerkmal.

Spannend ist der Begriff auch deshalb, weil er sowohl eine analytische als auch eine politische Dimension umfasst. Politisch reklamiert er die Anerkennung und die Rechte derjenigen, die in der popularen Ökonomie arbeiten. Analytisch verweist er auf die Komplexität der popularen Ökonomien, in denen selbstständige Kreisläufe von Produktion, Zirkulation und Finanzierung anzutreffen sind. Diese Kreisläufe lassen sich nicht dauerhaft abdrehen. Gewichtige Teile der Bevölkerung sind tagtäglich von ihnen abhängig, und der Zugang zu möglichen staatlichen Wirtschaftshilfen gestaltet sich für sie schwierig.

Für eine globale Perspektive ergibt sich daraus, dass hiesige Quarantänemaßnahmen in anderen Regionen schwerlich aufrechtzuerhalten sein werden. Im Hinblick auf Konflikte innerhalb der lateinamerikanischen Länder wird offensichtlich, dass Ausgangssperren und Quarantäneverordnungen für die ärmeren Bevölkerungsteile teilweise existenzbedrohend sind. "Zuhausebleiben" ist für einen gewichtigen Teil der popularen Sektoren in Lateinamerika schlicht keine Option. Nachdem soziale Verhaltensweisen derzeit eine starke moralische Aufladung vonseiten der Regierenden erfahren, gilt es für die Politikwissenschaften, solche Fragen (ungleicher) politischer und sozialer Folgen zu thematisieren. (Tobias Boos, Anna Preiser, 30.4.2020)