Dieser Tage regiert noch die Maske, während von vielen ein normaler Frühling nach Corona herbeigesehnt wird. Das Für und Wider eines von Neutralität und Ruhe zeugenden "Social Distancing" wird theoretisch flankiert oder hitzig in sozial immunen virtuellen Herdennetzwerken diskutiert. Chinesen werden skeptisch beobachtet, wie sie geordnet zum "Business as usual" zurückkehren. So als wäre nichts gewesen. So als wäre die Welt nach Corona so, wie sie vorher war.

Der Präsident des deutschen Bundestags, Wolfgang Schäuble, hat recht, wenn er die Situation beobachtet und bemerkt, dass die Stimmung fragil ist, dass sie kippen kann, denn: Unter der Oberfläche der Gesellschaft brodelt es an Energie. Energie, die Regierungen und Unternehmen in den nächsten Monaten wie eine Sturmflut ergreifen könnte und die sie entweder verstehen und sich positiv zunutze machen oder die für sie überraschend und kaum mehr steuerbar sein könnte.

Unter der Oberfläche der Gesellschaft brodelt es an Energie

Seit Wochen sitzen wir in unseren Wohnungen und Häusern und halten unsere Energie im Zaum; gebannt in diametral unterschiedlichen Lebensverhältnissen, die sich hinter den relativ ähnlich eintönigen Häuserfassaden verbergen. Die einen kommen kolossal zur Ruhe: Zum ersten Mal seit langem wurde mal wieder richtig ausgeschlafen, ausgiebig gefrühstückt, gekocht. Man brauchte Kollegen und Chefs nicht ertragen; reduzierte die Videositzungen auf ein Minimum, setzte sich mit dem Problem der Muße auseinander, wo doch die Rastlosigkeit des früheren Lebens so viel einfacher war. Das Gefühl, mal so richtig runterzukommen, führte bei dieser Gruppe von Leuten, die gesund sind, frei, finanziell abgesichert und relativ unabhängig, zu einer neuen inneren Balance, die den Wunsch anregt, diese nach der Krise nicht zu verlieren. Mehr Tiefgang und Authentizität statt Flughafenlounges? Das fragen sich die einen.

Bei anderen sieht es anders aus: Sie sind gelähmt von der Langeweile. Es ist ihnen, wie der Österreicher sagen würde, fad. Sie mögen finanziell abgesichert sein. Das ist positiv. Aber sie haben es schwer, mit ihrer zeitlichen Freiheit viel anzufangen. Freiheit – das ist, das Richtige wollen können –, das ist nicht leicht. Sie vermissen ihre externe Bespielung mit flottem Trott, die Reisemobilität, ihre Digitaltransformationen und das Geplänkel der Event-Geschwätzigkeit. Schon sitzen sie in den Startlöchern, um ihre innere Leere mit einer mächtigen Flucht nach vorne nach der Krise endlich loszuwerden. Es werden Pläne geschmiedet, wie man die gute Vor-Corona-Wirtschaft wiederherstellt; möglichst mit einem Marshallplan voll altbewährter Instrumente. Das Einzige, was diese Gruppe von Corona-Insassen mit ihren kontemplativen Zeitgenossen gemein hat, ist eins: überschüssige Energie, die die einen aus Ruhe und die anderen aus Langeweile gewonnen haben.

Und dann gibt es da noch diese richtig große Gruppe von Menschen, die ihre Energie weder aus Ruhe noch aus Langeweile beziehen, sondern aus der schieren Angst. Die Verletzbarkeit, Abhängigkeit und Unplanbarkeit ihres Schicksals hat sie in einen emotionalen Abgrund gerissen. Hilfe vom Staat, Kurzarbeit, Mietstundung, Kreditaufschub sind ein Tropfen auf dem heißen Stein des inneren Gemüts, das verzweifelt versucht, für die Zeit nach Corona eine Perspektive aufzubauen. Eine Suche nach Perspektive manchmal nicht nur, weil mit Corona die Arbeit, die Karriere, die Pläne, der eigene kleine Laden, das kreditfinanzierte Häuschen et cetera baden gegangen sind, sondern weil vielleicht wichtige Menschen gestorben oder in Not geraten sind. Diese Gruppe weiß nicht mehr, wo ihr der Kopf steht.

Welche Veränderungen bleiben, welche gehen wieder?
Foto: Christian Fischer

Chance 2020!

Die Energie, positiv verändern zu wollen, die Energie, konstruktiv weitermachen zu wollen, und die Energie der Angst sind ein ungeheures politisches Potenzial – im Guten wie im Schlechten. Jeder ist maximal handlungsbereit. Aber bei keinem geht es sicherlich so weiter wie bisher. Denn die Zeiten der politischen Resonanzlosigkeit und des Zynismus, der sich in Fernsehformaten wie der "Heute-Show" des ZDF oder in der amerikanischen "Daily Show" in den letzten Jahren so breitgemacht hatten, die sind irgendwie vorbei. Corona hat das Virus des Zynismus gekillt. Stattdessen stehen wir vor einer interessanten Wahl: Die Welt ist doch besser, als man immer dachte. Oder die Welt verwandelt sich in ein Monster.

Die Chance, die Post-Corona-Welt positiv zu nutzen, um sich als Gesellschaft zu transformieren, ist ungeheuer groß. In meinem Leben hat es noch nie eine Zeit gegeben, in der das temporäre Vertrauen in die Politik größer war. Zumindest scheint das für Österreich und Deutschland der Fall zu sein. Die Schweizer strahlten den neuen Wert der Krise auf ihr Matterhorn: "Solidarität" stand da. Und es wurde erstaunt zur Kenntnis genommen: Regierungen sind ja doch handlungsfähig! Kann man dieses in diesen Wochen noch bestehende Momentum der Solidarität und des Vertrauens in politische Handlungsfähigkeit nicht noch steigern und positiv ausbauen? Niemand möchte darauf mehr verzichten!

Die Möglichkeit eines Grundeinkommens

Vor diesem Hintergrund war der Augenblick noch nie so günstig, endlich das schon lange angedachte bedingungslose Grundeinkommen für alle zu experimentieren. Ich wage zu träumen, was passieren würde, wenn wir zumindest mal für ein paar Jahre ein solches Grundeinkommen für alle, und zwar tatsächlich bedingungslos, zur Verfügung hätten. Eines ist klar: Die oben beschriebenen Energien wären allesamt sofort positiv kanalisiert. Diejenigen, die die Ruhe genossen haben, sähen die Möglichkeit, ihre Energie dem Aufbau einer wahrhaft neuen und besseren Welt zur Verfügung stellen. Den anderen, denen fad war, macht es nichts. Sie werden in jedem Fall weiterarbeiten wollen, wenn nun auch in einem neu für sie ausgestrichenen Pool. Und die dritten, die Leute mit Angst, sie werden endlich Ruhe finden. Sie müssen sich nicht mehr so stark sorgen oder gar radikalisieren. Sie können sich sammeln. Sie können versuchen, in Ruhe einen Weg zu finden, der ihnen entspricht und bei dem ihnen sicherlich andere helfen können, Möglichkeiten zu finden, denn Solidarität gibt es ja nun zuhauf. Vielleicht gibt es dann ja sogar New-Life-Coaching umsonst?

Wenn Experimentergebnisse stimmen, die man mit dem bedingungslosen Grundeinkommen gemacht hat, wo die beobachteten Folgen dieses politischen Schritts gesteigerte Solidarität und Wohlbefinden in der Bevölkerung waren, ebenso wie die Entstehung von neuen Wirtschaftszweigen und eine gesteigerte Produktivität (!), dann wäre die Post-Corona-Zeit die am besten geeignete, es nun endlich auszuprobieren. Am besten nicht nur, weil alle in den Startlöchern stehen, weil die Regierungen die gewonnene Solidarität und das Vertrauen jetzt haben, weil das internationale Finanzsystem derzeit die Geldmengen hat, sondern auch weil die Sozialkassen ohnehin für so viel Unterstützung aufkommen müssen, dass es Sinn macht, diese Hilfe nicht als "Hilfspakete" zu schnüren, sondern als Instrument der Zukunftsgestaltung. Warum sollen die Milliarden an Hilfsgeldern Flugzeugkonzernen und anderen Unternehmen geschenkt werden, die einfach nur weitermachen wie bisher und dabei auch noch die Umwelt belasten? Warum nicht den Bürgern?

Die Rückkehr zur alten Welt wird es nicht geben

Schon während der Krisenwochen hat sich die Spreu vom Weizen getrennt: Einige Unternehmen erwiesen sich als resilient; sie hatten Rücklagen, sie waren gegenüber ihren Mitarbeitern verlässlich, transparent, großzügig und vertrauenswürdig. Sie werden auf eine großartige Treue und Solidarität ihrer Mitarbeiter nach der Krise bauen dürfen; und zwar egal ob es nun ein bedingungsloses Grundeinkommen gibt oder nicht, durch das sich lediglich die Gehaltsstrukturen ändern würden. Aber bei sehr vielen anderen Unternehmen war genau das Gegenteil der Fall: Sie waren ohnehin überschuldet, intransparent, geizig und kalt gegenüber ihren "Human Resources". Der erste Schritt dieses letzteren Unternehmenstypus war in der Krise, die eigenen Leute möglichst schnell auf die Straße zu setzen. Nicht immer gewollt – das ist schon klar. Aber Mitarbeiter verstehen eh die Werthaltung ihrer Dienstgeber. Da darf man sich nichts vormachen. Und der Unterschied in dieser Werthaltung während der Krise wird mit ausschlaggebend dafür sein, wie sich die Organisationen in den nächsten Monaten entwickeln. Vielleicht werden viele Mitarbeiter zu ihren früheren Arbeitgebern nicht zurückkehren, sofern sie sich das finanziell erlauben können. Und selbst wenn sie zurückkommen, kann es sein, dass sie sich verändert haben.

Was in jedem Fall passieren wird, ist, dass diejenigen, die in Ruhe zu sich kamen, auf diejenigen prallen, die vor lauter Langeweile-Kraft nicht laufen können. Die neuentdeckte kontemplative Ruhe prallt auf aufgestauten Aktionismus. Kommt jetzt nichts wirklich Neues und Beflügelndes, wie eben zum Beispiel ein bedingungsloses Grundeinkommen, dann wird sich eine subtile, aber auch mächtige Enttäuschung breitmachen bei denjenigen, die sich an dieser Stelle eigentlich eine Veränderung hin zu einer besseren Welt gewünscht hätten. Das kann für emotionalen Sprengstoff sorgen in den Organisationen, die ohnehin unter dem Druck stehen, trotz geschlossener Grenzen und schleppender Absatzwege wieder schnell so viel Umsatz zu machen, dass alle Mitarbeiter bezahlt werden können. Der Staat würde in diesem Szenario seine alte Rolle als missachteter Dienstleister und Troubleshooter im Hintergrund wieder einnehmen. Vorbei wäre dann die kurze Zeit seiner Beliebtheit. Im unerbittlichen Chaos einer sich aufrappelnden Weltwirtschaft, die von Angst und Konflikt bestimmt ist statt von Gestaltung und Aufbruch, entstünde die neue Normalisierung, die nicht mehr die Alte sein wird. Und auch die Digitalisierung mag dann ihre alte Rolle mit neuer Macht einnehmen: Allerdings in Europa nur sekundär als Überwachungsmacht über die derzeit alle reden, sondern vielmehr als Heilsversprechen, als Ort des Frustablassens und als Flucht aus einer Corona-freien Welt, für die man das Wohnzimmer dann auch gewollt nicht mehr verlassen will. (Sarah Spiekermann, 30.4.2020)