"Bald wird jeder von uns jemanden kennen, der an Corona gestorben ist." Mit dieser eindringlichen Warnung hat Sebastian Kurz Ende März versucht, die Österreicherinnen und Österreicher zu überzeugen, dass sie weiterhin alle Maßnahmen befolgen. Der Kanzler hat damit nicht recht gehabt. Anders als in New York oder der Lombardei ist die Zahl der Covid-19-Toten hierzulande sehr gering geblieben. Vom Virus merken die meisten nichts, von den Maßnahmen dagegen umso mehr.

Wie das nun veröffentlichte Protokoll der Corona-Taskforce vom 12. März zeigt, wusste Kurz damals, dass er den Teufel an die Wand malt. Er wollte den Menschen Angst machen, damit sie Beschränkungen akzeptieren, deren Sinn sie nicht erkennen konnten. An diesem Tag gab es in Österreich gerade 356 positiv Getestete und einen Corona-Toten.

Diese Schere zwischen Prognose und tatsächlichem Verlauf werfen viele dem Kanzler nun vor und sehen dies als Beweis dafür, dass alle Corona-Maßnahmen übertrieben sind. Aber Kurz und sein Koalitionspartner haben mit dieser scheinbaren Übertreibung dem Land einen guten Dienst erwiesen.

Im Zuge der Coronavirus-Krise wurden für manche Übertriebene Maßnahmen getroffen.
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Es liegt in der Natur eines exponentiellen Wachstums, dass die Katastrophe erst sichtbar wird, wenn es zu spät ist. Dass Österreich heute besser dasteht als die meisten anderen westeuropäischen Staaten – besser sogar als Deutschland –, liegt vor allem daran, dass der Lockdown hier ein paar Tage früher kam. Was im Rückblick wie Angstmache wirkt, war angemessen und zielführend.

Rückkehr zur Normalität

Auch jetzt steht die Regierung vor einem ähnlichen Problem. Das Risiko für den Einzelnen, sich bei einem Treffen mit Freunden, beim Einkaufsbummel oder in der Schule anzustecken, ist wieder recht gering und sinkt täglich weiter. Das spricht für eine rasche Rückkehr zur Normalität. Doch wenn die Mehrheit jetzt auf Social Distancing verzichtet, dann werden die Ansteckungszahlen und Todeszahlen bald wieder in die Höhe schießen.

Die zweite Welle kommt bestimmt. Doch ob sie mit geringen Einschränkungen kontrollierbar bleibt oder einen neuerlichen Lockdown verlangt, hängt davon ab, ob die Bevölkerung weiterhin nicht ihr persönliches Risiko, sondern das der Gemeinschaft als Maßstab für ihr Handeln nimmt. Solidarität in einer Pandemie bedeutet, die eigenen Interessen hintanzustellen – nicht nur für ein paar Wochen, sondern über Monate hinweg.

Lieber Apps als Immunitätspässe

Allerdings gibt es Möglichkeiten, diese Kluft zu verringern. Hier wäre von der Regierung mehr Ehrlichkeit erwünscht. Damit es im Herbst wieder gut besuchte Kultur- oder Sportveranstaltungen geben kann, braucht es strikte Regeln für die Teilnahme. Entweder dürfen sie nur von jenen besucht werden, die Covid-19 bereits hatten. Doch solche Immunitätspässe sind wissenschaftlich und ethisch fragwürdig.

Oder die Behörden werden bei jeder Neuinfektion in die Lage versetzt, die letzten Kontakte des Betroffenen verfolgen zu können. Das ginge über die ständige Feststellung der persönlichen Daten – oder, weniger zudringlich, über Apps, die dieses Ziel anonym verfolgen.

Wenn ÖVP und Grüne solche Vorhaben nun vehement abstreiten, weil sie in der Öffentlichkeit auf Widerstand stoßen, dann werden sie früher oder später ihr Wort brechen oder aber auf sinnvolle Instrumente zur Öffnung verzichten müssen. Eine ehrliche Antwort wäre: Wir wissen nicht, was noch auf uns zukommt, und müssen uns alle Optionen offenhalten. (Eric Frey, 27.4.2020)