Der Bundeskanzler setzt auf maximale Inszenierung und minimale Transparenz, kritisieren Kommunikatonsberaterin Christina Aumayr-Hajek und Gesundheitsökonom Ernest Pichlbauer im Gastkommentar. Wo Fakten und gesicherte Handlungsweisen fehlen, müsse ein hoher Angstpegel für Herdendisziplin sorgen.

Wir befinden uns in einer Pandemie und wissen im Grunde wenig. Gesichert ist derzeit nur, dass betagte Menschen mit Vorerkrankungen besonders gefährdet sind. Die Infektionssterblichkeit liegt vermutlich bei einem Wert zwischen 0,2 und 0,4 Prozent. Mindestens 50 Prozent der Infizierten haben einen asymptomatischen Verlauf, nur die wenigsten erkranken schwer.

Es gibt vor Anfang 2021 keine Impfung, ein Medikament ist noch nicht in Sicht. Nur zwei Schutzmaßnahmen haben eine belegte Wirkung: Händewaschen und Social Distancing. Weder die Schulschließungen noch das Maskentragen haben eine ausreichende wissenschaftliche Evidenz. Immerhin, das Realexperiment Schulschließung wurde jetzt für beendet erklärt. Aber die Bilder aus der Lombardei hängen wie ein Damoklesschwert über uns.

Eine Überdosis Angst, garniert mit Todesrhetorik, planiert jeden Zweifel. In der Corona-Krise hört alles auf Sebastian Kurz’ Kommando.
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Unsichere Zeiten erfordern aus medialer Logik klare Ansagen und eindringliche Sprachbilder. Damit schlug die Sternstunde des Kanzlers. Verglich Sebastian Kurz Covid-19 anfangs noch mit der Influenza und hielt das Tragen von Masken für nutzlos, sattelte er flugs auf den Krisenmodus um.

Im Auftritt "stronger and tougher" als alle anderen in Europa, mit dem Vorsatz, als Erster und Bester über die Ziellinie zu laufen. Das kam an, aus Sicht der Bevölkerung hat Kurz sehr vieles richtig gemacht. Erfolgreich waren die Etablierung des Krisenstabs und der tägliche Regierungsauftritt. 60 Regierungspressekonferenzen gingen bisher über die Bühne, 145 Gesetze wurden geändert oder neu erlassen. Die Opposition wurde mit dem nationalen Schulterschluss in die Pflicht genommen. Denn wer will schon Menschenleben gefährden?

Kollektives Gruseln

Das führt uns zum zweiten Erfolgsrezept des Kanzlers: Wo Fakten und gesicherte Handlungsweisen fehlen, muss ein hoher Angstpegel für Herdendisziplin sorgen. Von Lebensgefährdern war die Rede und von der größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Jeder würde bald einen Corona-Toten in seinem Umfeld kennen, und bis zu 100.000 Menschen könnten Corona zum Opfer fallen. Von Sterbenden werde man sich nur noch via Telefon verabschieden können.

Damit war für kollektives Gruseln gesorgt – und Ruhe im Karton. Während sich alle zu Tode fürchteten, wurde das Ermächtigungsgesetz durchgepeitscht. Wer braucht schon klar determinierte Gesetze und saubere Erlässe, wenn es mit einer 15 Millionen Euro schweren und frei Hand vergebenen Rot-Kreuz-Kampagne auch geht? Es lief, der türkise Balken zog in den Umfragen an.

Keine klar erkennbare Strategie

Mit scharfen Maßnahmen wurde die Ausbreitung des Virus eingedämmt, der Lockdown war unbestritten die richtige Entscheidung. Doch dann endete das Pandemie-Drehbuch der WHO, die Regierung war auf sich gestellt, und die Fehler begannen. Wir haben keine fundierte Datenlage, kein epidemisches Monitoring-Modell, wir haben keine Ahnung über mögliche Auswirkungen einzelner Maßnahmen und keine klar erkennbare Strategie. Die Regierung ist im Blindflug unterwegs.

In Österreich wird bei keinem einzigen Covid-Test ein epidemiologisch relevanter Wert erhoben. Alles, was wir tun, ist, die Zahl der Infizierten zu zählen. Andere Länder wissen auf Knopfdruck, wo wie viele Intensivbetten verfügbar sind – Österreich nicht. Selbst chronisch Kranke wurden aufgefordert, bloß nicht die Spitäler zu belasten. Ärzte berichten jetzt unter der Hand, dass die Nicht-Covid-19-Patienten nach dem Lockdown in einem dramatisch schlechten Zustand seien. Und wofür? Nur 20 Prozent der Intensivbetten wurden mit Covid-19-Patienten ausgelastet, nur fünf Prozent der freigespielten Spitalsbetten sind belegt.

Bloß keine Verunsicherung

Hier wurde mit Kanonen auf Spatzen geschossen und das Schlechterstellen aller Nicht-Covid-19-Patienten als belangloser Nebeneffekt abgetan. Ob Schaden und Nutzen in verträglichen Relationen zueinander stehen, lässt sich aber nicht sagen. Denn zur Überprüfung von Effizienz und Effektivität des Krisenmanagements fehlt die Datenlage – also jene Daten, die vorsorglich gar nicht erhoben oder publiziert werden. Selbst vorhandene Daten stehen unter Verschluss.

Die Regierung möchte die Bevölkerung mit Zahlen nicht verunsichern, wird gemunkelt. Und der komfortable Nebeneffekt für Türkis-Grün: Die Wirkung der Maßnahmen bleibt im Verborgenen. Kurz kann mit "Wir haben hunderttausend Tote verhindert" in den nächsten Wahlkampf ziehen, und niemand kann belegen, ob das grober Unfug ist.

Wir haben noch nicht einmal die Sterbezahlen im Griff, an denen eine Übersterblichkeit festgestellt werden könnte. Und je nachdem, wen man fragt, erhält man unterschiedliche Zahlen die Covid-19-Toten betreffend – dafür die Kampagne "Schau auf dich, schau auf mich". In jedem Fall sehr gut auf sich schaut der Kanzler. Er steuert auf die absolute Mehrheit zu. Währenddessen ist der wirtschaftliche Schaden des Lockdowns dramatisch.

Unangenehmes Beispiel Schweden

Der Kanzler spricht von Opfern, die leider notwendig sind, und bedankt sich bei den Österreichern. Wäre da nicht Schweden. In Schweden führt ein Expertenrat das Land durch die Pandemie und verzichtete auf einen radikalen Lockdown. Die prophezeite Katastrophe blieb aus, die letzten Daten aus den Spitälern geben Entwarnung, Schweden ist auf dem Weg in Richtung Herdenimmunität. Das ist jetzt unangenehm.

Wer will schon ein Land, das mit deutlich weniger wirtschaftlichem und sozialem Schaden durch die Pandemie kommt und den eigenen Lockdown damit infrage stellt? Darum wird Schweden vom Boulevard ausgespart. Und anders als in etlichen Medien dargestellt hat Schweden nicht mehr Corona-Tote als Österreich. Zwischen 9. 3. und 12. 4. sind in Schweden insgesamt zwölf Prozent mehr Menschen gestorben als zu dieser Jahreszeit üblich. Das war geringfügig weniger als in Österreich, da waren es 13 Prozent.

Den Krisenmanager entzaubern?

Was also, wenn viele Österreicher am Ende des Jahres ärmer sind als zu Jahresbeginn? Wenn viele Jobs durch die harten Maßnahmen nachhaltig verlorengingen und sich der Arbeitsmarkt als soziales Pulverfass entpuppt? Wenn private Kredite nicht mehr finanziert und die Firmenpleiten durch den Rettungsfonds nicht mehr aufgefangen werden?

Könnte Kurz als Krisenmanager doch entzaubert werden? Von der Opposition jedenfalls nicht. Krisenzeiten sind Regierungszeiten, europaweit liegen die Regierenden in den Umfragen vorn. Die Opposition ist abgemeldet und kann nur auf bessere Zeiten warten. Bleibt die vierte Macht. Aber auch von den Medien hat Kurz nichts zu befürchten. Die Werbeeinnahmen brechen dramatisch ein, finanzielle Segnungen kommen aber via Boulevard-Belohnungsgesetz aus dem Kanzleramt.

Und die Grünen?

Die Grünen sind weitgehend abgemeldet, ihr Parlamentsklub hat sich in vorauseilendem Gehorsam selbst aufgegeben. Die grünen Strategen setzen auf Fehlervermeidung und ersticken wie zu Eva Glawischnigs Zeiten jede Diskussion. Rudolf Anschober und Werner Kogler nicken ab, was Kurz vorgibt. Umweltministerin Leonore Gewessler hätte Format, wirkt aber isoliert. Ulrike Lunacek fiel als Kunststaatssekretärin in der Kultur-Community durch, bevor man sich noch ihren Namen merken konnte.

Vom Anspruch auf saubere Politik haben sich die Grünen bereits verabschiedet. Bleibt noch der Markenkern "saubere Umwelt". Dieses Versprechen wird der Kanzler einkassieren. Aus Gründen des nationalen Schulterschlusses, versteht sich. In der Wirtschaftskrise braucht es einen Rettungsplan, eine CO2-Steuer ist dann nicht mehr drin. Und wenn die Grünen nicht spuren, muss man leider, leider die Wähler fragen. Es wäre doch schade, wenn der Umfragerückenwind nicht nach Hause gespielt werden könnte, bevor er wieder verpufft.

Wer Kurz als Kanzler will, muss Opfer bringen. Das Ausmaß der Opferbereitschaft stand leider nicht im Beipacktext. (Christina Aumayr-Hajek, Ernest Pichlbauer, 28.4.2020)