Südafrikas Streitkräfte sind derzeit massiv präsent, wie hier in den Straßen von Johannesburg. 70.000 Uniformierte kontrollieren demnächst die Einhaltung der Ausgangsbestimmungen.

Foto: EPA / Kim Ludbrook

Als es endlich so weit ist, sind sie vor Hunger schon ganz weich in den Knien. Die 430 Kinder mussten erst einmal epidemiologisch korrekt in einer Reihe aufgestellt werden: Im Abstand von einem Meter auf dem Pflaster gezogene Kreidestriche helfen dabei. Nach einer guten halben Stunde zieht sich die Schlange schließlich über den Hof hinweg, durchs Tor hindurch, den schmalen Weg hinunter und noch die Straße entlang, weit mehr als 100 Meter. Wenigstens fällt das Tischgebet kurz aus: "Herr, segne unser Essen", bittet die beleibte Köchin. Dann rückt die mit Plastikcontainern ausgerüstete Kinderkarawane im Einmetertakt zu den Blechtöpfen vor, die mit Kichererbsensuppe gefüllt sind. Für die meisten der Zwei- bis 16-Jährigen ist dies die einzige Mahlzeit am Tag: "Und die Schlange wird jeden Tag länger", klagt Alice Modiri.

Im Organisieren von Kinderspeisungen ist die Mittvierzigerin ein Profi: Jahrelang sorgte sie in einer Schule hier im Johannesburger Township Alexandra für die obligatorische staatlich gesponserte Schulmahlzeit in der großen Pause. Doch seit vier Wochen sind die Schulen zu – Opfer der drastischen südafrikanischen Ausgangssperre. In Alexandra sieht es an jedem Tag wie am Wochenende aus: Kinder spielen in den Straßen (was eigentlich unter Strafe verboten ist), junge Männer sitzen trotz Verbots vor ihren Hütten oder Häusern. Die meisten der über 200.000 Township-Bewohner pflegen sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser zu halten: Auch die hat der Lockdown zumindest vorerst vernichtet.

Angespannte Lage

Zur selben Zeit im wenige Kilometer weiter nördlich gelegenen Slum Diepsloot. Vor einem eingezäunten Gelände stehen Hunderte von Erwachsenen aufgereiht: Zumindest der Kopf der kilometerlangen Schlange wartet schon seit heute Nacht um zwei. Als schließlich am frühen Nachmittag ein Fahrzeug mit 800 Plastikbeuteln mit Gemüse eintrifft, verwandelt sich die Schlange in einen hektischen Menschenball: Der Organisator der Gemüseausgabe wagt nicht, das Tor zu öffnen. Aus der Menge ruft ein Mann: "Wir werden verhungern, noch bevor uns das Virus erwischt!" Und eine junge Frau schreit hinterher: "Wenn das so weitergeht, wird unser Land zum Kampfgebiet!" Tatsächlich wurden in Kapstadt bereits Lastwagen ausgeraubt, an anderen Orten Supermärkte geplündert. Kommentatoren warnen in den Zeitungen vor Hungeraufständen.

Schon vor der Pandemie seien rund 300.000 Südafrikaner auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen gewesen, weiß der Johannesburger Sozialforscher Marius Oosthuizen: Diese Zahl könnte sich bis Ende dieses Monats verzehnfacht haben. Von der Aussicht auf Aufstände aufgeschreckt starteten Angehörige des Mittelstands aller Couleur eine beispiellose Spendenkampagne: Allein die drei reichsten Familien des Landes zahlten jeweils eine Milliarde Rand (rund 50 Millionen Euro) in den "Solidaritätsfonds" ein. Da auch die Regierung mit einem milliardenschweren Hilfspaket nachzog, sind seitdem weniger die Mittel das Problem als der Weg, auf dem sie zu den Adressaten gelangen. Schon kursieren Gerüchte, wonach lokale ANC-Politiker die Care-Pakete ihren Wählern oder Günstlingen zukommen ließen: Sie bekämen "die ganze Macht des Gesetzes zu spüren", droht Staatspräsident Cyril Ramaphosa seinen korrupten Parteifreunden.

Geläuterter Helfer

Als Helfershelfer bieten sich Leute wie Philemon Matome an. Der Christ saß einst fünfeinhalb Jahre lang wegen versuchten Mordes und Car-Hijacking im Gefängnis: Heute steht er einer Freikirche vor und verteilt im Rahmen seiner "Blessed is the hand that gives" getauften Hilfsorganisation seit kurzem Gemüsepakete. Nachdem Philemons Freunde und Familie versorgt worden sind, kommt auch eine vaterlose Familie mit zehn Kindern an die Reihe, die in einem kaum fünfzehn Quadratmeter großen Raum im Herzen Alexandras lebt. Nachts, wenn sie schlafen, ist sowohl das Bett wie der Boden belegt: Tagsüber ist es völlig ausgeschlossen, die elfköpfige Familie in dem Raum zu halten. Die Khumalos leben vom Kindergeld (umgerechnet 24 Euro pro Kind und Monat) sowie früher von Gelegenheitsjobs der ältesten Schwestern.

Was bleibt, ist das rudimentäre Sozialsystem, das Südafrika allen anderen Ländern südlich der Sahara voraushat: Jede über 60-jährige Person bezieht eine staatliche Pension, jeder Behinderte (auch HIV-Infizierte) eine Behindertenrente, jedes Kind unter 18 Jahren Kindergeld. Angesichts der Corona-Krise will die Regierung die Sozialleistungen in den kommenden sechs Monaten teilweise verdoppeln: Doch auch das wird die Khumalos nicht aus der Misere retten. Nur fünf der zehn Kinder beziehen Kindergeld: Für die andere Hälfte konnte Mutter Khamisa keine Geburtsurkunde auftreiben. Der Teufel steckt in Südafrika meist im Detail.

Als Nächstes fährt Philemon eine am Rand des Townships gelegene alte Fabrikhalle an. Sie ist provisorisch in 18 Räume unterteilt, in denen sich simbabwische und malawische Migranten mit ihren Familien niedergelassen haben. Der Lockdown hat sie härter als alle anderen getroffen: Sämtliche Brotgewinner verloren ihren Job, ohne finanziellen Ausgleich oder staatliche Stütze. "Keine Arbeit, kein Geld", habe sein Boss dekretiert, erzählt der 35-jährige Matthew, der dem weißen Südafrikaner als Gärtner gedient hat. "Wir essen höchstens noch einmal am Tag", sagt Matthew.

Corona-Notprogramm

Vergangene Woche gab Präsident Ramaphosa ein Corona-Notprogramm in Höhe von umgerechnet 25 Milliarden Euro bekannt: ein Zehntel des jährlichen Wirtschaftsvolumens, vergleichbar mit den Wiederbelebungshilfen europäischer Staaten. Das "historische" Paket soll sowohl etablierten Firmen wie von der Pleite bedrohten Kleinunternehmern und den rund eine Million neuen Arbeitslosen zukommen: Ausgaben, die den ohnehin hochverschuldeten Staat noch über Jahrzehnte hinweg belasten werden. Wenn Südafrika so tatsächlich von den verheerenden gesundheitlichen Folgen der Pandemie verschont werde, ein lohnender Einsatz, meint Philemon: "Aber wenn nicht?"

Cyril Ramaphosa wusste sich während der Corona-Krise zum populärsten Präsidenten des Landes nach Nelson Mandela aufzuschwingen: Seine wöchentlichen TV-Ansprachen vermitteln der Bevölkerung die Gewissheit, dass sich ihr Staatschef ernsthaft um sie kümmert – ein Gefühl, das in den vergangenen zwanzig Jahren verlorengegangen war. Auch international genießt der 67-Jährige Ansehen: Die Weltgesundheitsorganisation WHO preist Ramaphosa als Musterknaben im Kampf gegen die Pandemie. Der Präsident verhängte bereits den Lockdown, als hier noch nicht einmal tausend Infizierte gemeldet waren: Seitdem steigt die Zahl der Neuansteckungen nicht mehr exponentiell an – allerdings wird der Gipfel der Pandemie jetzt frühestens im September erwartet.

Lockdown-Schema

Zur allgemeinen Erleichterung kündigte Ramaphosa am Donnerstag eine erste Lockerung des Lockdowns an: Allerdings sollen wesentliche Beschränkungen wie das Flugverbot, die geschlossenen Grenzen (selbst zwischen den Provinzen des Landes) und an den Arbeitsplätzen beibehalten werden. Die Regierung entwarf ein komplexes fünfstufiges Lockdown-Schema: Zunächst wird nur von der fünften auf die vierte Stufe heruntergeschaltet – wie es danach weiter geht, hängt von der Zahl der Neuinfektionen ab.

Unterschiedliche Provinzen können auch unterschiedliche Stufen ausrufen: Sollte die Ansteckungsquote außer Kontrolle geraten, wird wieder landesweit die totale Ausgangssperre verhängt. "Dann gnade uns Gott!", sagt Philemon.

Soldaten errichten Straßensperren

Auf Alexandras Hauptstraße, der London Road, haben Soldaten Straßensperren errichtet. Auch Philemon wird kontrolliert: Der Gemüseverteiler hat jedoch eine Sondererlaubnis. Statt der bislang knapp 3000 Soldaten will Ramaphosa in den kommenden Monaten sogar 70.000 Uniformierte zur Überwachung des abgemilderten Lockdowns in Bereitschaft halten: eine Mobilmachung, die viele Südafrikaner in Angst und Schrecken versetzt. Schon jetzt kam es gelegentlich zu Übergriffen: Nicht weit von der London Road entfernt schlugen mehrere Soldaten den 40-jährigen Collins Khoza dermaßen zusammen, dass er im Krankenhaus starb. Collins Vergehen: Er hatte eine Flasche Bier im Haus – was nicht einmal gegen die Bestimmungen verstößt. Wahrscheinlich sei er den Soldaten frech gekommen, nimmt Philemon die Uniformierten in Schutz.

Der geläuterte Verbrecher ist überzeugt davon, dass die Pandemie bald überwunden sein wird: "Wenn wir Gott vertrauen und den Anweisungen der staatlichen Autoritäten folgen."

Alice Modiri, die inzwischen sämtliche 430 Kinder mit Kichererbsensuppe versorgt hat, nennt noch einen anderen Grund für ihre Zuversicht: "Wir Afrikaner sind wesentlich widerstandsfähige als ihr Europäer." Gegen den Hunger sind allerdings auch sie nicht gefeit. (Johannes Dieterich aus Johannesburg, 28.4.2020)