Man muss kein Duftliebhaber sein, um Coco Chanel und ihr Chanel N° 5, das erfolgreichste Damenparfum aller Zeiten, zu kennen. Aber wem, der nicht in der Sowjetunion gelebt hat, ist Polina Schemtschuschina-Molotowa und das Parfum Krasnaja Moskwa (Rotes Moskau) ein Begriff? Und wer, der ihren Namen vielleicht doch schon einmal gehört hat, weiß mehr über sie, als dass sie die Frau des langjährigen Stalin-Vertrauten und sowjetischen Außenministers Wjatscheslaw Michailotwitsch Molotow war?

Tatsächlich war Schemtschuschina-Molotowa eine der wenigen Frauen, die es im Machtzirkel des Sowjet-Regimes weit nach oben brachten. 1939 wurde die Tochter einer armen jüdischen Familie aus der heutigen Ukraine, die sich 1917 den Bolschewiken angeschlossen hatte, zur ersten und einzigen Volkskommissarin in der Geschichte der UdSSR, später auch Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei. Schemtschuschina-Molotowa baute die staatliche Parfumindustrie auf, die mit "Rotes Moskau" einen Duft hervorbrachte, der getrost als das östliche Pendant zu Chanel N° 5 bezeichnet werden kann.

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Die Revolution 1917 veränderte in Russland alles – auch die Parfümindustrie. Zehn Jahre später kam mit Rotes Moskau ein Duft auf den Markt, der ausgerechnet von einem Parfum abstammte, das zum 300. Jubiläum der Romanow-Dynastie kreiert worden war. Auch Chanel N° 5 ist damit verwandt.
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Totalitäre Duftspur

Die Geschichte der beiden Frauen – Chanel und Molotowa – und ihrer Jahrhundertdüfte ist eng miteinander verwoben, sie wabert wie ein komplexer Geruch durch eine Epoche der Extreme. Der Osteuropahistoriker Karl Schlögel ist der Duftspur durch Revolution, Krieg und Totalitarismus gefolgt und hat sie zu einem packenden wie ungewöhnlichen Buch destilliert. Trotz aller offenkundiger Gegensätzlichkeiten treten dabei viele Parallelen zwischen der Nazi-Kollaborateurin Chanel und der glühenden Stalinistin Schemtschuschina-Molotowa zutage.

Karl Schlögel, "Der Duft der Imperien: Chanel N° 5 und Rotes Moskau". € 23,70 / 220 Seiten. Hanser, München 2020
Cover: Hanser Verlag

Ausgangspunkt von Schlögels bemerkenswerter Recherche ist ein Parfum, das 1913 zum 300. Jubiläum der Romanow-Dynastie kreiert worden war: das Bouquet de L’Impératrice Catherine II., später in Rallet N°1 umbenannt. Der Meister hinter diesem Duft war der Franzose Ernest Beaux, seines Zeichens Chefparfumeur des Moskauer Hoflieferanten Alphonse Rallet & Co. Nach der russischen Revolution 1917 ging Beaux zurück nach Frankreich und entwickelte den Duft in mehreren Varianten weiter.

Als die Modeunternehmerin Coco Chanel 1920 Beaux beauftragte, einen Duft für sie zu kreieren, bot er ihr eine Serie dieser Weiterentwicklungen an – und sie entschied sich für die fünfte Probe. Wie sich Beaux später erinnerte, entschied Chanel: "Wir lassen dem Parfum die Nummer, die es trägt. Diese Nummer 5 bringt ihm Erfolg." Sie sollte recht behalten.

Der Duft des Ostens

Doch auch in Moskau entstand auf Grundlage des Bouquet de L’Impératrice ein neues Parfum. Das dauerte allerdings etwas länger als im Westen: Die vormals von französischen Unternehmen dominierte russische Parfümindustrie war zwangsverstaatlicht und zusammen mit Seifenherstellern unter dem klingenden Namen "Staatlicher Trust der Fett- und Knochenverarbeitungsindustrie" reorganisiert worden. Ihre Produktionsziele waren radikal andere: Statt Luxusgütern sollte vor allem Massenware hergestellt werden, an die Stelle extravaganter Düfte für die High Society rückten Hygiene- und Kosmetikartikel für die breite Bevölkerung. Nach den Wirren der Verstaatlichung wurden aber bald auch wieder Düfte hergestellt – und Schemtschuschina-Molotowa übernahm die Leitung des Industriezweigs.

Dem ebenfalls aus Frankreich stammende Parfumeur Auguste Michel gelang die Ausreise aus Russland nach der Revolution nicht, er blieb und setzte seine Arbeit unter dem neuen Regime fort. Michel kannte das Rezept, aus dem Beaux einst das Bouquet de L’Impératrice entwickelt hatte – und nahm es 1925 zum Ausgangspunkt einer eigenen Kreation: Rotes Moskau. Der Duft wurde 1927, zum 10. Jahrestag der Revolution, in den Handel gebracht und schlug ein wie Chanel N° 5 im Westen. Schemtschuschina-Molotowa bestimmte die Geschicke des Dufts mit. Sie soll auch entschieden haben, dass der Flakon seinen ikonischen Verschluss in Form der Zwiebelturmspitze des Kremls erhielt.

Opportunismus und Fanatismus

Während die Rezepte für Rotes Moskau und Chanel N° 5 denselben Ursprung haben, gerieten die Frauen hinter den Düften auf unterschiedliche Weise in den Bann der Macht. Chanel arrangierte sich nach der deutschen Okkupation Frankreichs 1940 ohne Umschweife mit den Nationalsozialisten. Für die neuen Machthaber war die Zusammenarbeit mit prominenten Figuren aus der Pariser Society wie Chanel von großem Propagandawert – und Chanel, die keinen Hehl aus ihrem Antisemitismus machte, sah ihrerseits eine Chance gekommen: Sie versuchte, die 1924 an das Unternehmen der jüdischen Brüder Pierre und Paul Wertheimer gegangenen Verwertungsrechte für Chanel N° 5 wiederzuerlangen. Dabei waren es gerade die Wertheimers, die dem Parfum zum internationalen Durchbruch verholfen hatten.

Schemtschuschina-Molotowa hingegen hatte sich bereits als junge Frau in den Dienst der Bolschewiki gestellt. Wie Schlögel aufzeigt, war sie keine Mitläuferin, sondern arbeitete schon im Untergrund als überzeugte Revolutionärin. 1921 heiratete sie Molotow und rückte damit ins innere Zentrum der Macht vor. Die Molotows lebten sogar einige Zeit mit den Stalins in einer WG. Schemtschuschina-Molotowa legte eine beachtliche politische Karriere hin, die jedoch schon Ende der 1930er-Jahre erste Risse aufwies und auf einen allmählichen Vertrauensverlust Stalins hindeutete. In erzwungenen Geständnissen von Opfern des stalinistischen Terrors tauchte ab 1939 auch ihr Name auf, eine nähe zu Spionen wurde unterstellt. Der tiefe Fall ließ aber noch auf sich warten.

Antisemitische Säuberungen

Während des Zweiten Weltkriegs zählte Schemtschuschina-Molotowa zu den prominentesten Mitgliedern des Jüdischen Antifaschistischen Komitees, das sich um internationale Unterstützung für die Sowjetunion im Kampf gegen Nazideutschland bemühte. Schemtschuschina-Molotowa stand in Kontakt mit jüdischen Familienmitgliedern in den USA und Palästina und hatte gute Verbindungen zu ausländischen Diplomaten in Moskau, die dem Sowjetregime immer wieder nützten. Sie machte aus ihrer jüdischen Herkunft kein Geheimnis. 1948 unterhielt sie sich bei einem Empfang im Kreml zum 31. Jahrestag der Revolution mit der eben ernannten Botschafterin des neuen Staates Israel, Golda Meir, demonstrativ auf Jiddisch.

In einer Zeit, als Stalins paranoider Obskurantismus einen weiteren Höhepunkt erlebte und eine neue Säuberungs- und Terrorwelle – mit offen antisemitischer Handschrift – in Gang kam, wurden Schemtschuschina-Molotowa ihre jüdische Familie und die Kontakte ins Ausland zunehmend zum Verhängnis. Die einsetzende Verfolgungskampagne gegen "Zionisten, US-Agenten und Kosmopoliten" zielte aber wohl auch auf die Stellung ihres Mannes ab, des Außenministers Molotow, der als möglicher Nachfolger Stalins galt und zunehmend unter Druck gesetzt wurde.

Stalintreu in der Verbannung

Am 29. Dezember 1948 wurde Schemtschuschina-Molotowa schließlich aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen, im Jänner 1949 verhaftet, weil sie "im Laufe mehrerer Jahre in einer verbrecherischen Verbindung mit jüdischen Nationalisten gestanden" habe. Das Urteil erfolgte zwölf Monate später: fünf Jahre Verbannung. "Wenn die Regierung so entschieden hat, dann ist es so", kommentierte die Verurteilte lapidar, und bekannte sich weiterhin felsenfest zum Stalinismus fest. Ihrem Mann riet sie, sich von ihr scheiden zu lassen, was dieser auch umgehend tat. Als Schemtschuschina-Molotowa 1953 vom Tod Stalins erfuhr und freigelassen wurde, fiel sie in Ohnmacht – aber keineswegs aus Freude.

"Polina Schemtschuschina, die in Verhören, die auf einen Schauprozess hinausliefen, standhaft blieb, wurde letztlich durch den Tod Stalins am 5. März 1953 gerettet", schreibt Schlögel. "Aber sie blieb ihm gedanklich bis zum Ende ihrer Tage ergeben, eine Stalinistin, wie man sie nicht einmal im Lehrbuch finden kann." (David Rennert, 17.5.2020)