Claudia Wild ist Geschäftsführerin des Austrian Institute for Health Technology Assessment.

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Im Freien auf einer Parkbank sitzen ist ungefährlich und kein Fall für die Polizei, sagt Claudia Wild.

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Claudia Wild ist Gesundheitsexpertin und beschäftigt sich mit Kosten und Nutzen medizinischer Maßnahmen. Nun wurde ihr Institut, das Austrian Institute for Health Technology Assessment (AIHTA), vom Gesundheitsministerium beauftragt, eine umfassende Übersicht der aktuellen Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten zu Sars-CoV-2 für die evidenzbasierte Politikberatung zu erstellen.

STANDARD: Ihr Institut ist auf wissenschaftliche Entscheidungsunterstützung im Gesundheitswesen spezialisiert. Wie trifft die österreichische Politik derzeit Entscheidungen?

Wild: Ich habe durchaus Mitgefühl mit unserer Politik, denn sie wird aktuell getrieben von einer weltweiten Bewegung, bei der es darum geht, die Freiheiten der Menschen und ihre Persönlichkeitsrechte einzuschränken. Das ist auch in Österreich passiert. Der Politik ist vorzuwerfen, dass sie sich dem Aktionismus hingibt und nicht auf das Volk vertraut. Man könnte den Menschen auch einfach sagen, dass sie weniger Kontakt miteinander haben sollten, anstatt es zu verbieten. Unsere Entscheidungsträger haben sich nicht einer moderaten, sondern einer sehr autoritären Politik verschrieben. Leider gibt es nur wenige mutige Länder, etwa Schweden, die einen anderen Weg wagen.

STANDARD: Der schwedische Weg wird aber auch kritisiert, weil die Todesrate vergleichsweise hoch ist.

Wild: Doch welcher Weg der richtige ist, dafür gibt es – wie bei den meisten Dingen in dieser Pandemie – keine Evidenz. Und meiner Meinung nach bedarf es bei politischen Entscheidungen wie jener, dass so viele Menschen, ja, dass die ganze Welt daheim bleiben muss, wissenschaftlicher Evidenz. Doch eine Politik zu machen, die auf Evidenz basiert, ist derzeit extrem schwierig.

STANDARD: Aber wenn es keine Evidenz gibt, wie soll die Politik dann entscheiden? Wie hätten Sie gehandelt?

Wild: Die Politik in Krisenzeiten ist so gut wie ihre Beraterstäbe. Wenn man nur auf Virologen hört – die sich im Übrigen auch widersprechen – und keine breitere Public-Health- oder gar gesellschaftliche Perspektive einnimmt oder zumindest zulässt, dann kommt eben genau das heraus: eine angstbesetzte Politik, die auf Kontrolle statt Vernunft setzt. Es bedürfte einer moderaten, ausbalancierten Politik: Risikogruppen und Gesundheitspersonal schützen, die Alltagsvernunft der Bevölkerung fördern.

STANDARD: Was ist aus Ihrer Sicht falsch kommuniziert worden?

Wild: Man könnte derzeit meinen, Viren bekommen Flügel. Etwa bei den von der Politik empfohlenen Abstandsregeln beim Sport im Freien. Das ist wissenschaftlich nicht nachvollziehbar. Auch die ganze Maskentragerei wird, außer dass sie soziologisch den Umgang zwischen den Menschen beeinflusst, nichts verändern, hier bräuchte man ebenfalls viel mehr Evidenz.

STANDARD: Welche soziologischen Auswirkungen sind das?

Wild: Schon jetzt ist es eine Rarität, wenn Menschen sich die Hand geben. Und wenn es doch jemand tut, ist bestimmt jemand im Umfeld, der sich beschwert, oder wenn jemand in der fast leeren S-Bahn keine Maske trägt. Das Klima spitzt sich zu zwischen den Obrigkeits- beziehungsweise Virushörigen und denen, die sich wirklich damit auseinandergesetzt haben, ob diese lächerlichen Masken irgendeinen Unterschied bei der Ansteckung machen. Sie sind eher infektionsfördernd als virusabstoßend, wenn sie, wie es oft passiert, immer wieder in die Handtasche gesteckt und dann wieder getragen werden.

STANDARD: Wozu raten Sie?

Wild: Ich bin froh, dass es genug Menschen gibt, die es sich nicht verwehren lassen, sich draußen zu treffen. Im Park sehe ich Eltern, die ihre Kinder miteinander spielen lassen wie eh und je. Ich hoffe, dass der Hausverstand bei den Menschen wieder aufwacht und sie sich diese Bevormundung nicht mehr gefallen lassen.

STANDARD: Ihr Institut wurde vom Gesundheitsministerium beauftragt, eine Übersicht der weltweiten Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten im Bereich Covid-19 zu erstellen. Warum?

Wild: Der Bericht soll bei zukünftigen Entscheidungen evidenzbasierte Unterstützung leisten. Wir sollen die Politik frühzeitig informieren, wenn Produkte in die Nähe einer Zulassung kommen. Der Hintergrund ist, dass in dieser Krise viele Firmen mit scheinbar heilbringenden Produkten unterwegs sind. Nichts davon ist für Covid zugelassen, dennoch preisen viele ihre Ware ohne Evidenz an.

STANDARD: Und die Politik könnte darauf hereinfallen?

Wild: Ähnlich war es beim Grippemittel Tamiflu. Hier wurde viel Geld investiert, und erst später gab es wissenschaftliche Evidenz. Und zwar dafür, dass das Medikament nur marginal bis gar nicht wirksam ist. Es hat den Entscheidungsträgern damals sehr wehgetan, dass sie nicht ausreichend informiert waren. Das soll nun verhindert werden, die Politik will evidenzbasierte Entscheidungen treffen, bevor sie Geld ausgibt, und jene Arzneimittel aussuchen, deren Nutzen bewiesen ist.

STANDARD: Es ist nicht einfach, den Überblick bei widersprüchlichen Informationen zu behalten.

Wild: Ja, so ist es. Es gibt viele Zahlen und Informationen. Und ihre Interpretation hängt auch von vielen Faktoren ab – welches Weltbild man hat, ob man zur Risikogruppe gehört oder ob man anfällig für Ängstlichkeit ist.

STANDARD: Wie weit ist die Entwicklung von Medikamenten und Impfungen bisher?

Wild: Weltweit wird derzeit an insgesamt 155 Medikamenten und 79 Impfungen gearbeitet. Die meisten der in der Entwicklung befindlichen Medikamente gegen Covid-19 haben schon eine Zulassung für andere Erkrankungen. Ihre Wirksamkeit gegen Covid-19 müssen sie erst beweisen. Erst dann gibt es eine Zulassung.

STANDARD: Warum? Sie sind doch bereits am Menschen erprobt?

Wild: Das ändert aber nichts daran, dass ihr Einsatz bei Covid-19 bisher ein Off-Label-Use ist. Bei ihrer Anwendung gegen Lungenerkrankungen auf Intensivstationen ist es auch in Ordnung, dass viele Schritte übersprungen werden. Um in großen Mengen eingekauft zu werden, müssen diese Medikamente aber auch gegen Covid-19 nachweisbar wirken und zugelassen sein.

STANDARD: Und wie sieht es bei den Impfungen aus?

Wild: Von den 79 Impfstoffkandidaten sind vier Impfstoffe in klinischer Erprobung.

STANDARD: Wie geht Ihre Arbeit jetzt weiter?

Wild: In unserem Kompendium stehen alle Medikamente drinnen, die wir gefunden haben und die in Fachmedien als wesentliche Hoffnungsträger beschrieben wurden. Wir haben aufgelistet, wie weit die Entwicklung ist, wie viele Personen an Studien dazu teilgenommen haben, was schon publiziert wurde et cetera. Ab jetzt überprüfen wir diese Infos laufend und fügen neue hinzu. Wir monitoren quasi den Lebenslauf jedes Medikaments und jedes Impfstoffkandidaten bis zur Zulassung. Damit hoffen wir, in Zukunft wirklich mehr Evidenz in politische Entscheidungen zu bringen. (Bernadette Redl, 30.4.2020)