Sebastian Kurz hat sich als Krisenkanzler bewährt. Selbst diejenigen, die ihn nicht gewählt haben, müssen den Hut ziehen: Das Regierungsmanagement der Krise bisher war im Großen und Ganzen trotz kleiner Pannen ausgezeichnet. Kurz und Co haben entschlossen gehandelt und, was fast ebenso wichtig ist, die Bevölkerung von der Sinnhaftigkeit ihrer Maßnahmen überzeugt. Aber dieser tüchtige Kanzler ist nach wie vor nicht bereit, auch nur einen einzigen minderjährigen Flüchtling aus den Elendslagern auf den griechischen Inseln in Österreich aufzunehmen. Das ist eine Schande.

Österreich ist das einzige unter den wohlhabenden Ländern der EU, das sich diesem Akt der Solidarität entzieht und sich damit in eine Reihe mit Viktor Orbáns Ungarn stellt. Die stattdessen oft beschworene Hilfe vor Ort (Container) ist bescheiden und besteht zu einem nicht geringen Anteil aus Polizisten, die den Griechen helfen, Flüchtlinge abzuwehren.

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und Vizekanzler Werner Kogler.
Foto: APA/ROLAND SCHLAGER

Es ist kein Ruhmesblatt für die Opposition, dass dieses Thema in deren Kritik an der Regierung nur am Rande vorkommt. Kurz’ Gegner reden lieber von Intransparenz, Angstmache, Inszenierung. Das ist legitim. Aber Klappern gehört nun einmal zum Handwerk und Inszenierung zur Politik. Als unauffälliges Mauerblümchen wird man nicht Spitzenpolitiker.

Anständigkeit

Die beinharte Asylpolitik dieses Kanzlers steht auf einem anderen Blatt. Sie widerspricht allen menschlichen und europäischen – nicht zu reden von christlichen – Grundsätzen. Gibt es denn in seiner traditionsreichen Partei, die einmal Volkspartei hieß, niemanden, der diesen begabten Regierungschef beiseitenimmt und ihm sagt: Das geht einfach nicht? Das ist dieses Landes nicht würdig?

Und es stimmt auch nicht, dass Anständigkeit zwingend Popularität kostet. Es gibt viele Bürgermeister, die sofort bereit wären, ein paar Jugendliche in ihrer Gemeinde aufzunehmen. Und viele konservative Wähler, die damit einverstanden wären. Viele auch nicht. Aber Angela Merkel hat gezeigt, dass man auch gegen den Willen der unbeirrbaren Fremdenhasser die beliebteste politische Persönlichkeit des Landes sein kann.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist das Land vollauf mit der Corona-Krise beschäftigt. Kein anderes Thema beherrscht die Medien. Aber allmählich greift die "neue Normalität" Platz, und wir haben auch wieder Zeit und Kraft, nicht nur an unser eigenes Wohlergehen, sondern auch an das anderer zu denken. Die weltweite Flüchtlingskrise ist derzeit in den Hintergrund getreten, aber sie ist nicht verschwunden. Früher oder später werden sich die Verantwortlichen, voran der Bundeskanzler, wieder mit ihr beschäftigen müssen.

Kurz hat das Zeug zu einem großen Kanzler. Er hat nicht nur hervorragende Umfragewerte, er hat in den Krisenwochen auch viel geleistet. Dabei hatte er freilich auch das Glück, seine blauen Mitregenten los zu sein und einen herzeigbaren und effizienten Koalitionspartner zu haben. Aber um zu einem wirklich großen Bundeskanzler zu werden, genügt es nicht, politisches Geschick zu zeigen. Man braucht dazu auch noch etwas anderes: Herz. Alle großen Staatsmänner hatten es. Sebastian Kurz hat hier noch Lernbedarf. (Barbara Coudenhove-Kalergi, 30.4.2020)