EU-Kommissarin Věra Jourová ist für Werte und Transparenz zuständig.

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Auf den ersten Blick liest es sich wie eine Nachricht, die nicht mehr ganz taufrisch ist: "EU leitet gegen Polen Verfahren wegen Justizreform ein." Wer meint, diesen Satz schon öfter irgendwo gelesen zu haben, liegt damit nicht falsch. Und doch ist er auch diesmal wieder richtig: Die Europäische Kommission hat am Mittwoch ein weiteres Vertragsverletzungsverfahren gegen Warschau eröffnet, einmal mehr geht es um die Sorge um Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung.

Im aktuellen Fall stößt sich die Kommission an Disziplinarregeln für Richter, die Anfang des Jahres eingeführt wurden und von Kritikern im In- und Ausland als Maulkorbgesetz bezeichnet werden. Es bestehe die Gefahr, dass die Politik sie nutzen könnte, um Justizentscheidungen zu kontrollieren, erklärte die aus Tschechien stammende EU-Kommissarin Věra Jourová, die für Werte und Transparenz zuständig ist.

Brüssel gab der nationalkonservativen Regierung in Warschau nun zwei Monate Zeit, auf die Bedenken zu reagieren. Sollte Polen nicht einlenken, würde der Fall vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg landen.

Der Grund für die häufige Wiederkehr des Themas liegt darin, dass "die polnische Justizreform" nur ein politischer Sammelbegriff für eine Vielzahl von Entscheidungen ist, mit denen die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) das Justizsystem des Landes bereits seit knapp fünf Jahren umkrempelt. Immer wieder eckt Warschau damit auch bei den EU-Gremien an. Im vergangenen Sommer etwa entschied der EuGH, dass die Herabsetzung des Pensionsalters am Obersten Gericht Polens illegal gewesen sei. Kritiker hatten beanstandet, dass die Regierung dadurch unliebsame Höchstrichter loswerden und möglichst rasch durch neue ersetzen habe wollen.

Tauziehen um Wahltermin

Das aktuelle Verfahren platzt in eine turbulente Phase der polnischen Politik: Am 10. Juni stehen Präsidentschaftswahlen an. Amtsinhaber Andrzej Duda, der aus den Reihen der PiS stammt, führt in den Umfragen. Die Regierung will die Wahl trotz Corona-Krise durchziehen und hat daher beschlossen, sie als reine Briefwahl abzuhalten. Dagegen gibt es rechtliche Bedenken.

Die Kandidatin der oppositionellen Bürgerplattform (PO), Malgorzata Kidawa-Blonska, will ihre Bewerbung zurückziehen, sollte die Wahl nur per Brief erfolgen. Der EVP-Vorsitzende Donald Tusk, er ist ehemaliger EU-Ratspräsident und polnischer Expremier, hat seine Landsleute sogar zum Boykott aufgerufen: "Die Situation, die von der Regierung für den 10. Mai vorbereitet worden ist, hat mit Wahlen nichts gemeinsam", verbreitete er am Dienstag via Twitter.

Milde gegen Ungarn

Im Fall des umstrittenen Corona-Notstandsgesetzes in Ungarn hat sich Brüssel vorerst gegen die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens entschieden. EU-Kommissarin Jourová betonte aber am Mittwoch, dass diese Einschätzung nur für den Moment gelte und sie die Lage in Ungarn "proaktiv" verfolgen werde. Kritiker bemängeln, dass der rechtsnationale Premier Viktor Orbán durch das Gesetz mit Dekreten am Parlament vorbeiregieren kann. (Gerald Schubert, 29.4.2020)