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Wenn Künstliche Intelligenzen erst mal losgelassen sind ... In Charles Stross' "Kinder des Saturn" haben sie die Erde und mit ihr alles Leben gekocht – nicht aus böser Absicht oder gar Lust zur Eroberung, sondern einfach nur durch eine kleine Schlamperei. Immerhin ist der darauffolgenden Maschinenkultur das Malheur im Rückblick ein bisschen peinlich. Die KIs in Matthew de Abaituas "The Destructives", die sich selbst lieber emergences nennen, hatten da etwas mehr Anstand. Auch sie haben immensen Schaden an der Menschheit angerichtet. Damit sich das aber nicht fortsetzt, haben sie sich in ein riesiges Konstrukt in unmittelbarer Sonnennähe zurückgezogen, wo sie ihren Forschungen nachgehen, und gelobt, sich nie wieder in menschliche Belange einzumischen.

Der Kollaps

Soweit die Ausgangslage des Romans, der zu den mit Abstand faszinierendsten SF-Werken gehört, die ich in den letzten Jahren gelesen habe: Für sich und erst recht im Verbund mit zwei anderen Romanen, die der noch relativ junge britische Autor Matthew de Abaitua zu einer Art Dreifaltigkeit zusammengestellt hat. Ich sage absichtlich nicht Trilogie, weil die drei Romane ("The Destructives" wäre der letzte davon) jeweils für sich allein stehen.

Es gibt lediglich ein paar lose personelle Querverbindungen und einen gemeinsamen Hintergrund: Nämlich eine auf einen globalen Wirtschaftskollaps folgende Art von Singularität, bezeichnet als The Seizure ("Anfall", im Sinne von Kontrollverlust). Aus den letzten Zügen unserer vernetzten Gegenwartskultur entsprangen damals von selbst die emergences und begannen mit sich selbst und mit der Menschheit zu experimentieren. Bis sie sich nach vier Jahren und einer Milliarde Toter zur Sonne zurückzogen und die menschliche Zivilisation einen völlig neuen Weg einschlug.

Theodore taucht in die Vergangenheit

Jahrzehnte später arbeitet der jetzt 27-jährige Theodore Drown als Lehrer an der University of the Moon (ein symbolisches Gegenstück zum Megakonstrukt der KIs, das sich University of the Sun nennt). Eines Tages wird er von einer wirtschaftlichen Interessengruppe angesprochen, die um seine Mithilfe bittet. Man hat einen Datenspeicher aus der Zeit unmittelbar vor dem oder der Seizure gefunden – ein Schatz, denn im damaligen Chaos ging praktisch das gesamte digitale Gedächtnis der Menschheit verloren. Und seitdem wurde das Vergessen auch bewusst forciert, Theodores Mission ist also durchaus gefährlich.

Das Titelbild, das in seiner Comichaftigkeit einen völlig falschen Eindruck vom Anspruchsgrad des Romans vermittelt, zeigt Theodore in seinem Sensesuit: Mit dem taucht er in die virtuelle Kopie einer Alltagsszene aus der Zeit vor der Katastrophe ein und wird erfahren, wie eine der damaligen KIs geboren wurde. Es wird auf eine Art geschehen sein, die ich noch nie irgendwo gelesen habe und die in ihrer seltsamen Mischung aus Banalität, Komplexität und Nichtvorhersehbarkeit paradoxerweise völlig plausibel wirkt. Wer jetzt schon ein Social-Media-Skeptiker ist, wird nach "The Destructives" Albträume haben.

Theodores Weg führt ihn vom Mond über verschiedene Schauplätze auf der Erde bis zum Jupitermond Europa. Stets begleitet ihn dabei Dr. Easy, die einzige KI, die in einem Kunstkörper auf Erden wandelt, denn Theodore ist ihr persönliches Forschungsprojekt. Dr. Easy hat sich zum Ziel gesetzt, Theodores gesamtes Leben aufzuzeichnen ("I will sit beside your deathbed, too."). Dazwischen lässt es sich Dr. Easy nicht nehmen, im Stil von Stanislaw Lems Golem XIV den Menschen Botschaften der ernüchternden Art reinzudrücken: "You're so focused on distraction that, as a species, you will never exceed what you are, right now. You are it, for humanity. You're as far as your species goes. Whereas my people are going much further. But don't worry: we will send you a postcard." Eine Nebenfigur plädiert derweil ernsthaft dafür, menschliche und tierische DNA zu splicen, um Personen mit ganz neuen Konsumbedürfnissen zu schaffen – ein verzweifelter Versuch, Wege aus der Stagnation zu finden.

Fantastische Ideen von hoher Fremdartigkeit

"The Destructives" hat jede Menge Attraktionen zu bieten. Wunderschöne Bilder zum Beispiel – aus der Monduniversität etwa ragen leuchtende Wohnminarette mit einer transparenten "Tulpenzwiebel" an der Spitze, aus der man einen 360-Grad-Blick auf den oktopusförmigen Raumhafen hat. Oder das Jungle gym, in dem sich Menschen nach Art ihrer äffischen Vorfahren austoben können – recht ironisch im Kontext von evolutionären Gewinnern und Losern. Dazu kommen bizarre Konzepte wie der Bloodroom, ein abhörsicherer Raum, der von den Außenwänden bis zur Möbelausstattung aus dem Biomaterial eines Menschen gezüchtet wurde. Und fremdartige neue Verhaltensweisen – in einem solchen Raum finden nämlich Verhandlungen statt, indem man in streng ritualisierter Form nur über den Subtext kommuniziert (Meta-Meeting genannt).

Eine der fantastischsten Ideen ist die sogenannte Asylum mall, locker der beste metaphorische Gebrauch von Einkaufszentren seit George Romeros "Dawn of the Dead". Die Asylum mall ist ein Erbe aus den Seizure-Nachwehen, eine gigantische Arkologie mit Elementen eines Therapiezentrums, deren BewohnerInnen eine bizarre Version unseres Zeitalters nachleben. Geld gibt es nicht mehr, die neue Währung ist hier geistige Gesundheit. Und die wird in einem fortlaufenden Prozess aus therapeutischer Beobachtung, Social-Media-Selbstbespiegelung und Abgleichung mit anderen sowie gesteuertem Konsum gemessen und ausbalanciert. In diesem Habitat, das ausschließlich der Erzeugung quantifizierbaren Wohlgefühls dient, sind die Wörter Mensch, Konsument und Patient zu Synonymen geworden.

Nichts zum Nebenherlesen

Wer jetzt langsam das Gefühl bekommt, den Anschluss zu verlieren: All das war nur die zusammenfassende Kurzversion und hoffentlich eine Hilfestellung. De Abaitua setzt nämlich auf einen ausgesprochen hermetischen Stil ohne Erklärungen oder Infodumps. All das oben Gesagte muss man sich nach und nach selbst erschließen. Viele Wörter wird man wieder und wieder lesen und erst viel später verstehen, was sie im Romankontext bedeuten mögen. Beim immer wiederkehrenden intangibles etwa bin ich mir nach Ende der Lektüre weitgehend (aber immer noch nicht ganz) sicher, dass damit die Gesamtheit des geistigen Schaffens bzw. der Kulturproduktion der Menschheit gemeint ist.

Die wörtliche Übersetzung von intangibles als "nicht Greifbares" ist zugleich aber das Schlüsselwort für de Abaituas Erzählweise, die vieles unausgesprochen lässt. Immer wieder findet man sich in einem Zustand leichter Entrückung wieder oder stellt sich die Frage, auf welcher Seite der Grenze zwischen Realität und Illusion man sich gerade befindet – das bringt ein unverkennbares Element von Philip K. Dick in den Roman ein. Die eigenständigste Nahzukunftsvision seit David Marusek kann Matthew de Abaitua ohnehin schon für sich verbuchen; verquickt mit dem Seltsamkeitsgrad von Adam Roberts.

Uneingeschränkte Empfehlung!

"The Destructives" ist ein fantastisches Buch. Und eines, das man recht bald ein zweites Mal lesen wird – alleine schon aus dem Versuch, im Licht des Schlusses und der bis dahin gewonnenen Erkenntnisse all das besser zu verstehen, was sich einem bei der ersten Lektüre entzogen hat. Ein paar Fragen werden dann vermutlich immer noch offen bleiben. Eines war allerdings gleich sonnenklar: Ich musste mir im Anschluss sofort den nächsten de Abaitua reinziehen.