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Nicht jeder aus dem Götterhimmel der Kurzgeschichte schafft auch den Sprung ins lange Format. Alice Sheldon alias "James Tiptree, Jr." etwa schrieb mit "Up the Walls of the World" ("Die Feuerschneise") einen passablen Roman, der mit ihrer phänomenalen Kurzprosa aber nicht mithalten konnte. Und Ted Chiang hat's bislang nicht einmal versucht. Der in Alaska lebende David Marusek hingegen hat den Formatwechsel mittlerweile geschafft. Nach einer Reihe Aufsehen erregender Kurzgeschichten in den 90ern erschien 2005 schließlich die Erstausgabe seines Roman-Debüts "Counting Heads". Der ist grandios, trägt aber noch einige Merkmale einer Übergangsform. Unter anderem baut er auf der Kurzgeschichte "We Were Out of Our Minds with Joy" aus dem Jahr 1995 auf, die dem Roman in leicht veränderter Form als Eröffnungsabschnitt vorangestellt ist.

Der Transhumanismus ist näher, als man denkt

Ende des 21. Jahrhunderts hat die Welt eine nachhaltige technologische Revolution hinter sich. Wenn im Cyberpunk noch Menschen in den virtuellen Raum eintraten, so ist der Durchgang in den transhumanen Szenarien der gegenwärtigen Science Fiction nach beiden Seiten offen – auch bei Marusek. Menschen können sich entscheiden, ob sie mit ihrem Gegenüber ganz altmodisch in realbody kommunizieren oder ohne nennenswerten Aufwand virtuelle Kopien ihres aktuellen Bewusstseinszustands, sogenannte proxies, herstellen, die zu selbstständigem Handeln fähig sind und nach Ende des Bedarfs wieder gelöscht werden. Die Anzahl von proxies ist beliebig, dieselbe Person ist damit zu multiplem Handeln an verschiedenen Orten fähig.

Eine erste Welle von Künstlichen Intelligenzen, die belt valets, fungieren als vernetzte Privatsekretäre ihrer menschlichen Träger – später werden sie zu mentars evolvieren und Bürgerrechte erlangen. Der menschliche Körper ist überdies mit Nanoprozessoren geflutet, die Krankheiten im Keim ersticken, das biologische Alter nach Lust und Laune frei wählbar machen und einen alten Traum Realität werden ließen: die Unsterblichkeit. Detail am Rande: Da diese Entwicklung von uns aus gesehen in relativ naher Zukunft stattgefunden und rückwirkend gegriffen hat, gehören die Protagonisten des Romans unserem Zeitalter an – und zwar nicht nur der Generation unserer Kinder, sondern durchaus auch der unserer Eltern.

Der tiefe Fall vom Olymp

"This must be how the Greek gods lived on Olympus", sinniert der reiche und populäre Designer Samson Harger, zusätzlich beflügelt davon, dass ihn die aufstrebende Politikerin Eleanor Starke als Gefährten erwählt hat. Doch kein Paradies ohne Schlange – im Fall von "Counting Heads" ist dies das Erbe des Outrage, einer Phase nanotechnologischen Terrorismus Mitte des Jahrhunderts, welches die freie Umwelt und jeden, der sie betritt, rettungslos verseucht. Sämtliche Städte in Nordamerika und anderen begüterten Regionen haben sich mit HighTech-"Baldachinen" geschützt, in ihrem Inneren patrouillieren Biomaschinchen und testen die Bevölkerung auf Befall.

Eines Tages stellt eine solche slug – fälschlicherweise – bei Samson eine Kontaminierung fest und leitet damit seinen tiefen Fall ein. Samson wird seared, seine Zellen werden "ausgebrannt" und damit gegen jede äußere Beeinflussung gesperrt. Moderne Medizin und Verjüngungskuren stehen dem plötzlich wieder sterblich Gewordenen nicht mehr zur Verfügung; jedes Material, das sein Körper abstößt, vernichtet sich noch im selben Moment durch Selbstentzündung. Und noch eine Nebenwirkung hat die Behandlung: Samson stinkt fortan wie ein Raum voller Katzenpisse – stinkers wird die Gesellschaft solche wie ihn nennen.

Neuer Kontext

Soweit ging bereits die Geschichte "We Were Out of Our Minds with Joy", die Marusek hier aber subtil veränderte, indem er andeutet, dass weder der Aufstieg von Samsons Frau noch dessen eigene Tragödie Zufall waren. Nun springt der Roman 40 Jahre vor in den Mai 2134 und ändert auch seine Erzählperspektive. Statt der anfänglichen Ich-Erzählung Samsons folgt die Handlung nun in der dritten Person einer Reihe von Protagonisten, die die unterschiedlichen Zweige der Menschheit vertreten.

Da ist zunächst Merrill Meewee, der sich durch das Garden Earth Project die Sanierung der Erde erhofft und möglichst viele der mittlerweile 15 Milliarden ErdbewohnerInnen mit Kolonieschiffen ins All hinausschicken will. Bogdan Kodiak wiederum, ein charterist, und Fred Londenstane, ein iterant, gehören den beiden neuen Hauptzweigen der Menschheit an. Charterists sind Mitglieder halbautonomer Gemeinschaften wirtschaftlichen Ursprungs – denn eines verlangt die erbarmungslos ökonomische Ausrichtung des Zukunftsparadieses: ein jeder finde seine Nische.

Bogdans charter hat ihre anfänglichen Glanzzeiten längst hinter sich, heute leben sie wie ein kleiner vorzeitlicher Clan in tragikomischer Territorialkonkurrenz mit ihren Wohnblocknachbarn. Jeden Tag kommen die charter-Mitglieder für eine Zeremonie zusammen, in der sie alles, was sie tagsüber an Geld auftreiben konnten bzw. was sich dazu machen lässt, in einen Topf werfen. Sei es, dass sie sich als Straßenkünstler verausgabt haben – sei es ein bisschen Müll aus dem Park, das der automatische Recycler mit Krediten belohnt. Bogdan trägt noch das größte Scherflein zum Einkommen der Wahlfamilie bei: Er, eigentlich längst erwachsen, hat sein biologisches Alter künstlich auf eine vorpubertäre Phase eingefroren und ist damit eine begehrte Testperson für die Marktforschung einer in Holo-Soaps vernarrten Gesellschaft. Auch diese radikale Maßnahme wird ihn aber nicht vor einem atemberaubend zynischen Entlassungsgespräch bewahren ...

Realistisches Klon-Konzept

Den wirtschaftlichen Niedergang vieler charters haben ohne eigene Schuld die iterants von Konzernen wie "Applied People" eingeleitet: Nach Vorbildern mit gewünschten Eigenschaften produzierte Klone, vollwertige Bürger und für ihre jeweiligen Jobs so maßgeschneidert, dass natürlich geborene Menschen aus vielen Berufszweigen vollkommen verdrängt wurden. Es gibt penelopes, steves, jeromes und viele andere mehr – und schon die Kleinschreibung deutet an, dass sich hier Subspezies der Menschheit, zumindest im sozialen Sinne, herausbilden.

Tatsächlich bleiben die Klone weitestgehend unter sich, arbeiten allmählich ihre eigenen Netzwerke und Historiografien aus. Fred, ein russ und damit 100 Prozent loyaler Sicherheitsspezialist, ist zunehmend damit beschäftigt, seine russness zu erkunden – während seine Frau Mary, eine evangeline, darunter leidet, dass ihr einziges genetisches Talent – die Sterbebegleitung - in einer Welt der ewig Jungen nicht mehr gebraucht wird. Denn auch iterants müssen ihr Auskommen finden, sonst klettert man auf der sozialen Leiter (und in den riesigen Arkologien, in denen die iterants leben, sogar buchstäblich) immer weiter nach unten.

Die Schicksale all dieser Protagonisten laufen nun an einem entscheidenden Tag zusammen: Chicago befindet als erste Stadt, dass die Nano-Gefahr nicht mehr virulent sei, und zerstört ihren Baldachin. Samson hat diesen Tag für seine lange geplante Sterbestunde auserkoren. Und seine Ex-Frau Eleanor kommt durch einen Unfall zu Tode, die wiederbelebbaren Überreste ihrer Tochter Ellen werden entführt. Und so komplex ist das gesellschaftliche Panorama, das Marusek hier aufzieht, dass man völlig vergisst, dass sich die weitere Handlung um einen Mittelpunkt dreht, der einem B-Picture entsprungen sein könnte: nämlich um einen tiefgefrorenen Kopf.

Gekonnt durchdacht, geschwind gekauft

"Counting Heads" ist eindeutig ein anspruchsvolles Leseerlebnis – ein Autor mit plumperem Stil könnte einem da leicht Kopfweh verursachen, während bei Marusek alles wundersam klar bleibt. Es wimmelt im Roman von Neologismen, die sich ohne große Erklärung aus der Handlung erschließen und dabei nie gekünstelt wirken, seien es McPeople oder caterbeitors, retroboys oder fabplats – oder die geschlechtsneutrale Anrede Myr. Die seltsame Anmutung von Echtheit zeigt auch die beispielhafte Szene, in der Samson von einem Taxifahrer diskriminiert wird und daraufhin die Worte der "Heiligen Wanda" zitiert: der ersten Stinkerin, die ihren Körperzustand für eine demonstrative Selbstverbrennung in der Öffentlichkeit einsetzte. Wenn nun der greise Samson ihre berühmt gewordenen Worte "Right here! Right now!" krakeelt, fühlt sich das beim Lesen an, als könnte man sich selbst an das wegweisende Ereignis erinnern.

Es ist Maruseks große Leistung, das transhumane Szenario nicht nur bis ins letzte Detail zu durchdenken, sondern gerade die Konsequenzen der technologischen Entwicklung auf den Alltag hervorzustreichen – und dem Ganzen damit eine zutiefst menschliche Note zu verleihen. David Marusek steht in einer Reihe mit den ganz Großen der Gegenwart: Charles Stross, Stephen Baxter oder Robert Charles Wilson. Eines allerdings unterscheidet ihn von den dreien: Keines seiner Bücher wurde bislang ins Deutsche übersetzt. Also heute kaufen und morgen (oder wann auch immer eine deutsche Ausgabe erscheinen sollte) sagen können: Kenn' ich doch läääängst.