Medienwissenschafter Bernhard Pörksen: "Je länger die Krise dauert, desto intensiver werden die Konflikte hervortreten."

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STANDARD: Während Politiker den nationalen Schulterschluss fordern, um durch die Corona-Krise zu kommen, ist es die Aufgabe von Journalisten, ihre Äußerungen und Handlungen kritisch zu hinterfragen. Ist diese Machtbalance in der Coronakrise aus den Fugen geraten?

Pörksen: So scharf würde ich nicht formulieren, nein. In der ersten Schock- und Shutdownphase bestand kaum eine andere Möglichkeit, als einen situativ geforderten Verlautbarungsjournalismus zu praktizieren, die publizistische Begleitung und Erläuterung des medizinisch Gebotenen. Und es gab, auch das gehört zu einem gerechten Bild, von Anfang an glänzende Erklärstücke, fundierte Hintergrundberichte und erhellende Interviews, die Demontage von Verschwörungstheorien und Fake-News.

STANDARD: Und dann?

Pörksen: In einer zweiten Phase ist der politische Journalismus zu lange und unmittelbar der eng geführten Perspektive der Virologen gefolgt, die ihrerseits die Politik prägt. Eine Orientierung an Expertenmonopolen ist, prinzipiell gesprochen, nie gut. In Zeiten einer derart dramatischen Krise wird sie gefährlich. Hier hätte ich mir mehr Distanz und mehr Debatte gewünscht, eine von Journalisten erzwungene Weitung des Blicks. Ganz im Sinne des bevölkerungsbezogenen Ansatzes eines Martin Sprenger, der auch die Kollateralschäden der jetzigen Maßnahmen in den Blick nimmt.

STANDARD: Wissen Sie, was zu tun wäre?

Pörksen: Mitnichten, nein. Ich gehöre zu der kleiner werdenden Gruppe bekennender Nicht-Virologen. Aber ernsthaft: Wir ringen doch alle um den richtigen, möglichst verantwortlichen Umgang mit elementarer Ungewissheit, weil viel zu viel noch unklar ist. Nur eines weiß ich: Es braucht eine breite gesellschaftliche Debatte über die langfristige Strategie. In Deutschland haben Bundes- und Landespolitiker versucht, eine Diskussion über den Sinn von Einzelmaßnahmen und die massiven Einschränkungen der Grundrechte abzubügeln. Und gefordert: "Bloß keine Exit-Diskussion!" Ich halte eine solche Diskurstabuisierung für einen schweren Fehler. Zum einen, weil ohnehin niemand ernsthaft den Ad-hoc-Exit gefordert hat. Zum anderen, weil damit die gesellschaftlich existenzielle Frage der Zukunftsperspektive gleich mit abgeräumt wurde. Hier hätte der politische Journalismus sehr viel massiver gegen halten müssen.

STANDARD: Der deutsche Virologe Christian Drosten hat vor allem die politischen Journalisten in Deutschland kritisiert, dass sie in der Corona-Krise versagen, weil sie Personenkult betrieben, ihre Fragen kontraproduktiv seien und am Wesentlichen, gesellschaftlich Relevanten vorbeigingen. Teilen Sie seine Kritik?

Pörksen: Nein. Ich bin kein Freund einer Rhetorik, die das tut, was sie anderen vorwirft: pauschalisieren. Für mich zeigt sich hier die Ambivalenz des journalistischen Mittels der Personalisierung. Die Person ist nötig. Ihre Geschichte ist ein Instrument der Veranschaulichung. Aber das fortwährende Reden und Schreiben über Personen bedient einen Starkult, der von der Sache wegführt, vom eigentlichen Thema ablenkt.

STANDARD: Können Sie Beispiele nennen?

Pörksen: Gerne, klar. Dies war im Falle von Edward Snowden erlebbar; das David-gegen-Goliath-Narrativ hat die Debatte über die anlasslose Massenüberwachung schließlich überlagert. Dies zeigt sich am Beispiel des Hypes um Greta Thunberg, die ihr eigenes Dilemma – der Klimaschutz braucht ein Gesicht, aber wirklich keinen Promi-Journalismus – immer wieder thematisiert. Und dies sieht man am Beispiel von Christian Drosten, der erkennbar unter dem leidet, was Medienwissenschaftler "instant fame" nennen, Ad-hoc-Berühmtheit. Der "Stern" nannte ihn den "wichtigsten Mann der Republik". Andere sprachen von einem "Virologen-Gott." Die "Bildzeitung" wollte wissen: "Welchem Virologen vertrauen Sie am meisten?" Das ist Quatsch-Prosa, die Journalismus mit Heldenverehrung verwechselt.

STANDARD: Konzentriert sich der Journalismus insgesamt zu sehr auf Personen, Heldengeschichten und Machtkämpfe statt auf Themen?

Pörksen: Ich würde sagen: Politik ist immer auch Machtkampf. Aber der reine Machtkampf ist noch keine Politik. Eine solche Betrachtung fördert den Zynismus und die Politikverachtung. Und viel entscheidender ist doch jetzt, wer seine Arbeit gut macht. Und warum. Und wie wir auf solidarische Weise durch diese Krise kommen, ohne Schwächere unnötig zu gefährden. Aber auch ohne das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben zu zertrümmern und das Leid von weniger Privilegierten massiv zu verschärfen.

STANDARD: Die Corona-Krise bringt deutsche und österreichische Medien in existenzielle Krisen, weil Anzeigen wegbrechen, die Folgen sind reduzierte Umfänge und Kurzarbeit, im schlimmsten Fall droht Medien das Aus. Andererseits ist das Informationsgebot- und bedürfnis gerade jetzt so groß wie noch nie. Die einzige Linderung des Dilemmas scheint, dass der Staat mit Hilfsgeldern in die Bresche springt.

Pörksen: Hier zeigt sich eine eigene Tragik. Denn der intensiv recherchierende, seriös sortierende Journalismus ist so wichtig wie nie. Und gleichzeitig ist eben dieser Journalismus gerade aktuell ökonomisch bedroht wie schon lange nicht mehr. Die Corona-Krise wirkt da wie ein Katalysator einer ohnehin laufenden Entwicklung. Man kann mit publizistischem Dreck nach wie vor viel Geld verdienen. Aber deutlich wird, dass Medien das robuste Geschäftsmodell, um Qualität zu refinanzieren, im digitalen Zeitalter nach wie vor fehlt.

STANDARD: Gibt es einen Ausweg aus dem Dilemma?

Pörksen: Meine Sorge ist, dass uns die Zeit wegläuft, um das Zersplittern der alten Informations- und Medienordnung durch medienmündige User zu kitten. Denn eigentlich braucht es, wenn die Anzeigenfinanzierung schwächer wird oder ausfällt, einen neuen Pakt zwischen dem Journalismus und einem medienmächtig gewordenen Publikum, der anerkennt: Seriös recherchierte Information ist in einer liberalen Demokratie das, was sauberes Wasser für den Menschen ist – eine Lebensnotwendigkeit. Das heißt, im Letzten geht es um einen Bewusstseinswandel, einen Wechsel von der digitalen Gesellschaft der Gegenwart hin zur redaktionellen Gesellschaft der Zukunft.

STANDARD: Das ist eine Utopie, die Sie in Ihrem Buch über "Die große Gereiztheit" entfalten. Die Prinzipien des guten Journalismus sind, so heißt es hier, in der redaktionellen Gesellschaft zu einem Element der Allgemeinbildung geworden.

Pörksen: Ja, das ist der Kerngedanke. Aber auf dem Weg zu diesem Ziel braucht es eine normativ orientierte Medienbildung, die in der Schule beginnt. Dafür braucht es Politiker, die kritischen Journalismus nicht nur bei den Fensterreden der Zeitungskongresse loben, sondern die aktuell laufende Medienrevolution und die Öffnung des kommunikativen Raumes als eine gigantische, noch nicht wirklich entzifferte Bildungsherausforderung begreifen. Aber wie gesagt: Wir erleben im Moment, dass das klassische Informationsmodell des Gatekeeper-Zeitalters zerbricht – ohne wirklichen Ersatz, ohne den Ausgleich durch die Medienmündigkeit in der Breite der Gesellschaft.

STANDARD: Sie sind pessimistisch.

Pörksen: Ich würde gerne fröhlicher formulieren. Und eigentlich bin ich als Bewohner des universitären Elfenbeinturms geradezu zum Aufklärungs- und Bildungsoptimismus verdonnert. Aber Sie haben Recht, manchmal habe ich auch pessimistische Minuten. Und es ist schlicht erschütternd, was mir derzeit gestandene Akademiker, Freunde und Professoren-Kollegen an Desinformationsmüll zu Covid-19 über WhatsApp oder andere Kanäle senden.

STANDARD: Die österreichische Regierung hat ein Medienpaket für Tageszeitungen geschnürt, das sich primär an der Druckauflage orientiert, was dazu führt, dass der Boulevard viel mehr Geld erhält als etwa Qualitätsmedien. Das Modell stößt auf heftige Kritik von Medienwissenschaftern. Was meinen Sie?

Pörksen: Die Kritik ist vollkommen berechtigt – und ich gebe zu bedenken: Bunt bedrucktes Papier ist nicht systemrelevant. Und jenseits der Details scheint es mir grundsätzlich eine Art Webfehler einer solchen Form von Medienförderung zu geben: Im Letzten ist hier die Beziehung zwischen der Politik und einzelnen Medienhäusern einfach viel zu direkt. Das schafft unvermeidlich Unfreiheiten und Fehlanreize auf allen Seiten. Aus meiner Sicht muss man hier ein unabhängiges, politikfernes Expertengremium zwischen schalten, das primär ein Ziel vor Augen hat: den Erhalt einer vitalen Öffentlichkeit. Denn diese ist so etwas wie der geistige Lebensraum einer Demokratie.

STANDARD: Gerade auch in der Coronakrise informieren sich mehr Leute denn je online und Foren von Portalen haben eine wichtige Funktion in Zeiten der Isolation und dennoch gehen Onlinemedien bei der Medienförderung leer aus.

Pörksen: Stimmt. Und es gibt – jenseits eines solchen Traditionalismus – weitere Kuriositäten. Dazu gehört beispielsweise die massive Förderung von privaten Fernsehsendern oder auch die Subventionierung eines rechtsradikalen Magazins. Aber um nicht missverstanden zu werden: die beherzte Unterstützung von seriösen Medien scheint mir richtig. Man darf sich dabei nur nicht um die Qualitätsfrage herum drücken.

STANDARD: In Ihrem neuen Buch "Die Kunst des Miteinander-Redens" zeigen Sie Auswege aus der Polarisierungsfalle und der "großen Gereiztheit", die Sie im Jahr 2018 konstatiert haben. Führt Corona zu mehr Polarisierung in der Gesellschaft oder dominiert das "Schulterschluss"-Mantra, das die Politik orchestriert?

Bernhard Pörksen und der Kommunikationspsychologe Friedemann Schulz von Thun analysieren in Dialogform "Die Kunst des Miteinander-Redens. Über den Dialog in Gesellschaft und Politik". Hanser Literaturverlag, 17. Februar, 2020, 224 Seiten, 20,60 Euro
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Pörksen: Ich weiß es nicht. Und mir wird momentan eine Zeit- und Zukunftsdiagnostik verdächtig, die sich zu sehr von frommen Wünschen leiten lässt, frei nach dem Motto: Nun kommt ein neues Denken und ein neues Miteinander; das Virus katapultiert uns in eine empathische Zivilisation, ein Zeitalter der Solidarität. Ich kann im Moment nur sagen: Wir sind in eine Atmosphäre der totalen Gleichzeitigkeit eingetreten. Alles ist jetzt sichtbar und auf einem einzigen Kommunikationskanal erlebbar. Seriöse Information und bizarre Verschwörungstheorien. Hass und Hetze. Solidarität und empathische Nachbarschaftshilfe.

Aber welche Geschichte wird bleiben, welche letztlich dominieren? Meine Befürchtung: Je länger die Krise dauert, desto intensiver werden die Konflikte hervortreten, die aus der nackten Existenzangst und der plötzlich erzwungenen Enge und Nähe im Privaten resultieren. Dies bedeutet, dass die Kunst des Miteinander-Redens wichtiger und schwieriger wird – und gleichzeitig effektiver werden muss.

STANDARD: Was schlagen Sie vor?

Pörksen: Es gibt kein Rezept. Menschliche Kommunikation ist auf herrliche und verstörende Weise unberechenbar. Aber es gibt ein paar Prinzipien, Leitlinien einer unvermeidlich individuellen Kunst des Herausfindens, für die der Kommunikationspsychologe und Mitautor Friedemann Schulz von Thun und ich werben. Der Abschied von absoluten Wahrheitsvorstellungen, die Vermeidung pauschaler Attacken, die Freude an der Nuance, das Ringen um das richtige, je besondere Mischungsverhältnis von Empathie und Konfrontation – darum geht es.

STANDARD: Zum Schluss: Was vermissen Sie persönlich derzeit am meisten?

Pörksen: Das direkte, ganz unmittelbare Gespräch mit Freunden, Studierenden, meinen Eltern. Ich würde sagen: Wir Menschen sind Dialogtiere. Und ohne die Sauerstoffzufuhr eines guten Gesprächs primeln wir ein. (Oliver Mark, 3.5.2020)