Die französische Rabbinerin Delphine Horvilleur beleuchtet die Ursprünge des Antisemitismus.

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Fast genauso alt wie der Judenhass ist die Frage, wo er seine Ursprünge hat. Es gibt haufenweise Literatur dazu, dennoch sind die 2019 im französischen Original und nun in der deutschen Übersetzung von Nicola Denis erschienenen Überlegungen zur Frage des Antisemitismus der französischen Rabbinerin Delphine Horvilleur überaus lesenswert.

Denn sie richtet den Blick auf die jüdische Literatur selbst: "Tatsächlich bietet die Auslegung des Antisemitismus durch das Judentum eine bisher unbekannte Perspektive: den subjektiven Standpunkt derjenigen, die antisemitische Erfahrungen im Hinblick auf ihr mögliches Wiederaufleben und die entsprechenden Umgangsstrategien vorsorglich an die nachfolgenden Generationen weitergeben."

Dass diese Auseinandersetzung für die potenziellen Opfer dringlicher ist als für die anderen, ist logisch – man sieht es umgekehrt auch daran, wie lange in Deutschland oder Österreich das Treiben rechtsextremistischer Netzwerke geduldet wurde.

Horvilleur geht zurück bis in die Zeiten der Thora, um die jüdische Identität zu begreifen. Denn, und das ist schon eine der so simplen wie zwingenden Erklärungen für den Antisemitismus: Es gibt sie nur in Form einer Nichtidentität.

Sie besteht nicht darin, sich auf einen Ursprung zu beziehen, sondern eben diesen Ursprung zu verlassen. Sie besteht im Offenen, Beweglichen, Veränderbaren. Das ist es, was die Antisemiten so bedroht: Die jüdische Nichtidentität stellt ihr Ideal einer Welt voller Eindeutigkeit und klar umrissener Identitäten infrage.

Identitätsbildung

Im Klappentext wird Horvilleurs schmaler Essay als "feministische Perspektive" auf den Antisemitismus bezeichnet. Denn sie untersucht, was dieser mit Faschismus und Misogynie zu tun hat. Genau wie dem Judentum haftet auch dem Weiblichen (nicht als biologischer Tatsache, aber als geistigem Prinzip) etwas Bedrohliches an: Das Weibliche wird mit Natur, Unkontrollierbarkeit und Tod verbunden. Also wieder etwas, das sich nicht in eindeutige, starre Raster zwingen lässt.

Horvilleur rekapituliert unter anderem die Thesen Otto Weiningers, auch er jüdischer Herkunft und bekanntlich ein großer Juden- und Frauenhasser: "Die Frau und den Juden zu beherrschen bedeutet, sie um der eigenen Befreiung willen aus sich herauszureißen. Es gilt um jeden Preis, den Anderen loszuwerden, der uns daran hindert, wir selbst zu sein und endlich mit uns ‚eins‘ zu werden."

Immer wieder geht es um den zwanghaften Versuch, sich selbst eine feste Identität zu bilden – weshalb alles, was die Unmöglichkeit dieses Unterfangens aufzeigt, eliminiert werden muss. Es ist schade, aber der Form des Essays geschuldet, dass Gedanken nur angerissen werden. Dennoch ist die Lektüre unbedingt zu empfehlen. Nicht zuletzt, weil er die Juden nicht als Opfer, sondern als souveräne Akteure mit reicher Geistesgeschichte zeigt. (Andrea Heinz, 2.5.2020)

Delphine Horvilleur, "Überlegungen zur Frage des Antisemitismus". 18,50 Euro / 160 Seiten. Hanser, Berlin 2020