Im Gastkommentar erläutern Psychotherapeutin Andrea Plaschke und Psychologe Harald Haas, warum es nach der Krise nicht nur eine politische "Abrechnung" braucht, sondern auch Rituale für die Rückkehr zum vertrauten mitmenschlichen Miteinander. In einem weiteren Gastkommentar sieht der Politikwissenschafter Felix Butzlaff nicht nur eine autoritäre Entwicklung, vielmehr auch einen Trend zu effizienterer Politik.

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Welchen Einfluss haben die aktuellen Umstände auf die Identitätsbildung?
Foto: AP / Jeff Chiu

Ein Gespenst geht um in Österreich: die "neue Normalität". Die von der Bundesregierung dem eigenen Volk verordneten Zwangsmaßnahmen haben eine Bevölkerungsmasse geschaffen, die sich unbewusst und irrational vor ihrem Feind von außen, dem Virus, genauso wie vor ihrem Zerfallen fürchtet. Dies passiert, weil der künstlich geschaffene Zusammenhalt geeint hat im gemeinsamen Kampf gegen die Bedrohung. Auf diese Art und Weise zusammenzugehören schafft eine Werte- und Normenverbundenheit, die Individualität gewissermaßen auflöst und nicht ohne weiteres verlassen und hinterfragt werden darf. Es entsteht ein Innen und Außen: dabei sein bei den Zwangsabonnenten der Regierungsverordnungen oder ein abtrünniger, zu bestrafender Bürger sein, der die "zusammengehörige Masse" stört. So folgt sie lehrbuchhaft jedem "Anführer", der ihr suggerieren kann, sie vor diesen Bedrohungen zu schützen, sei es auch um den Preis der physischen und psychischen Isolation.

Propheten der Wahrheit

Solche "Propheten", die Massen vorstehen und sie anführen, leben vor allem auch von Behauptungen, die sie nicht beweisen, sondern nur gekonnt immer wieder wiederholen müssen. So verfestigen sie sich zu Wahrheiten, die oft jeder Wahrheit entbehren. "Wahrheiten", die von österreichischen Regierungsmitgliedern stereotyp immer wieder neu verkündet werden: Man habe nur die Wahl zwischen "Gesundheit oder Freiheit", die "Alternativlosigkeit" der Zwangsmaßnahmen oder die Mär von den 100.000 Toten, die man verhindert habe. Wer diesen Wahrheiten nicht folgt, wird öffentlich als "Verharmloser", "dumm" oder sogar als "Lebensgefährder" diffamiert. Die bellizistische Sprache bedeutet nicht nur eine gesellschaftliche und sprachliche Kulturwende, sie ist auch dazu geeignet, Auszustoßende zu schaffen, zusätzlich zum ohnehin sprunghaft angestiegenen und geförderten Phänomen der Denunziation. Weitere Mittel, mit denen dieses Verhalten bestärkt wird, sind Unsicherheit durch Message-Control und massive Polizeipräsenz im öffentlichen Raum.

Zu diesen massenpsychologischen Phänomenen kommen seitens der Obrigkeit eine bisher unbekannte Respektlosigkeit gegenüber dem Rechtsstaat, ein von ihr zu verantwortender enormer volkswirtschaftlicher Schaden und eine erhebliche psychische Belastung oder Schädigung der Bevölkerung.

"Heile Welt"

Wir müssen uns fragen, welchen Einfluss die aktuellen Umstände auf die Identitätsbildung, die sozialstrukturelle, psychische und physische Entwicklung der Menschen haben werden. Ein eventuell kurzer Zeitraum mit nachhaltiger Wirkung auf das Selbsterleben mit all seinen Zukunftsaufgaben, der Liebesfähigkeit, Achtsamkeit und Auseinandersetzungsbereitschaft einer Gesellschaft. Es gilt, Kindern einen Schonraum in dieser Zeit der "Verinselung" und "Verhäuslichung" mit ihren sehr begrenzten Möglichkeiten der Selbstentfaltung zu schaffen und die Sehnsucht nach Freundinnen und Freunden, Peers und anderen Familienmitgliedern abzumildern.

Alles dient dem ehrlichen Versuch, eine scheinbar "heile Welt" zu gestalten, um diese Ernstphase des gesellschaftlichen Lebens und der eigenen Sorgen unterschiedlicher Art zu verbergen. Es ist die Zeit, die Umarmung und Nähebekundungen verbietet, die eine Distanz ausruft, die einsam macht und uns à la longue eine verordnete Mitgefühlsdistanzierung und Gleichgültigkeit auferlegt. Denn wir können niemanden mehr einfach an der Hand nehmen und ihm über die Straße helfen, niemandem spontan bei einer Panne helfen, man kommt sich mit und ohne Maske bei diesen Alltäglichkeiten schon zu nahe!

Vertrauen schaffen

Um den Menschen aller Altersgruppen mit ihren Aufgaben in diesem Land wieder Vertrauen in ihren Staat zu geben, wird man dafür einen geeigneten Rahmen schaffen müssen. Es müssen die Grundfesten dieses Staates im Allgemeinen wiederhergestellt werden, um Verantwortlichkeit für entstandene materielle und psychische Schäden, für die Schaffung existenzieller Bedrohungen einzufordern. Dazu wird es notwendig sein, die aus der Zeit der Angst entstandene Masse nicht in eine obrigkeitlich verordnete "neue Normalität" zu drängen und damit die Perpetuierung von Unsicherheit und Angst zu erzwingen, sondern sie in ihre "alte Normalität" zurückzubegleiten.

Dies kann einerseits eine Form von "Abrechnung" mit den Regierenden im Rahmen aller gegebenen rechtsstaatlichen Möglichkeiten bedeuten. Andererseits werden Rituale vonnöten sein, die Wiederbelebung unserer Zivilisation und Kultur, ebenso wie Rückkehr zum vertrauten mitmenschlichen Miteinander schaffen, die die Bevölkerung in einer nachhaltigen und "gesunden" Art wieder aus ihrem realitätsverstellten Zustand holen.

Auf Augenhöhe

Wünschenswert wäre, dass wir es mit dem Ende der Krise schaffen, wieder zu individueller Autonomie zu kommen, die uns gestattet, im Sinne von These und Antithese, Für und Wider auf Augenhöhe miteinander zu denken. Einen Dialog zu starten, der für zukünftige Katastrophen ein gereifteres Miteinander erlaubt, das demokratische Grundfesten nicht torpediert und angreift. Das begründet eine gereifte Gesellschaft, die sich dem "Biophilen", dem Menschlichen, der Freiheit, dem Fortschritt und dem Leben zuwendet. Die Gefahr besteht immer nur darin, dass es zu einem Erstarren kommt, dass es unerträglich ist, sich und seine Entscheidungen zu hinterfragen, dann wäre man als Gesellschaft dem "Nekrophilen", der Vergangenheit, zu Gesetz und Ordnung, letztlich dem Leblosen ohne Widerrede verpflichtet. (Andrea Plaschke, Harald Haas, 2.5.2020)