Der traditionelle Aufmarsch der SPÖ am 1. Mai wurde heuer größtenteils virtuell abgewickelt.

Foto: EPA / Christian Bruna

Es lässt sich nicht ganz klar erkennen, ob das ein Glück war für die SPÖ oder – dem Wahr- und Warnspruch der Tante Jolesch folgend – "noch ein Glück". Eines also, vor dem der Herrgott einen hüten möge.

Einerseits ist die traditionssatte Partei virusbedingt umgefallen ums Hochamt, das heuer den 130. Geburtstag gefeiert hätte. Andererseits ersparte sie sich damit womöglich jene Schmach, die pfiffige Genossinnen und Genossen am 1. Mai des Jahres 2016 der Partei zugefügt haben auf dem Wiener Rathausplatz.

Im Vergleich zu Pamela Rendi-Wagner saß ja Werner Faymann 2016 beinahe wie John Wayne im Sattel. Wer weiß also, was der armen Frau, die den roten Flohhaufen aktuell zusammenhalten muss, erspart geblieben ist.

Und damit der Partei, deren oberstes Ziel und deren oberste Botschaft ja das eine ist: Solidarität. Und deren Gruß "Freundschaft!" lautet. Die Absage des Wiener 1. Mai war für die Sozialdemokratie, was das heurige Osterfest für die Kirchen gewesen ist: ein Fiasko. Und nun galt es, daraus das Beste zu machen.

Die Wiener SPÖ stellte darum einen anderthalbstündigen "virtuellen Maiaufmarsch" ins Netz, den Stadtsender W24 und – Märsche bedürfen halt der Straßen – auf den Boulevard von Wolfgang Fellners oe24.TV.

So was hat Vorteile und Nachteile. Es ist wie der Unterschied zwischen dem Theater und dem Film. Die große Geste, die laute Stimme, das Spiel mit dem mitspielbereiten Publikum – das fehlt natürlich. Aber das eben war für die österreichische Sozialdemokratie, deren Gravitationszentrum Wien ist und immer bleiben wird, halt auch das Glück.

Denn weder Michael Ludwig noch Pamela Rendi-Wagner haben – mag sein noch nicht – das Rampensäuische, das etwa einen Helmut Zilk oder Michael Häupl oder gar Bruno Kreisky ausgezeichnet hatte. Bei denen wirkte jede Inszenierung, als wäre sie gar keine. Das ist große Kunst.

Ohne Pfiff

Im virtuellen Maiaufmarsch stellt sich die Frage nach der Inszenierung nicht. Da regnet es auch nicht, da geht kein Wind, da muss niemand – eingekeilt unter all den Aufmarschierten – unbedingt aufs Klo. Und Pfeifer gibt es auch keine, was für den Zusammenhalt der Partei das Schlechteste nicht ist.

Dazu kommt, dass Michael Ludwig – er muss im Herbst als nächster SPÖ-Chef in die Wahl – im Kammerspiel von Schuss und Gegenschuss sehr schön seine Qualitäten ausspielen kann. Ludwig ist gelernter Historiker. Für eine Sozialdemokratie, wie sie sich heutzutage darbietet und anstellt, ist das nicht das Ungeschickteste, die Historie auszuspielen wie ein Atout. Der Wiener Bürgermeister begibt sich also – das war streckenweise wirklich interessant gemachtes Bildungsfernsehen – in ein Fachgespräch mit Wolfgang Maderthaner, dem besten Kenner nicht nur der Geschichte der Arbeiterbewegung.

Das Widerstandssymbol der Arbeiterbewegung, die rote Nelke am Revers, wird von den SPÖ- Abgeordneten bis heute getragen.
Foto: Matthias Cremer

Auf der hohen Bühne des Rathausplatzes wäre Maderthaner eine Spur zu professoral, zu nachdenklich, zu wägend. Im Kammerspiel kann er, benickt von Michael Ludwig, schadlos das Erfolgsmotto der Wiener Sozialdemokratie ins Zwiegespräch bringen: "Bildung und Zukunftsgewissheit." Zukunftsgewissheit! Was für ein schönes Wort. Michael Ludwig ergänzt: "Mit uns zieht die neue Zeit."

Das sei so gewesen, so werde es bleiben. Weil der Kopf der Kopf ist und oft halt nicht anders kann, stellt er sich das vor, heruntergerufen von der großen Bühne des Rathausplatzes. Dann wünschte sich der Kopf, er hätte das nicht getan. Aber was will einer schon ausrichten gegen den eigenen Kopf?

Das schöne Lied Mit uns zieht die neue Zeit ist die Kampfhymne der deutschen Schwester SPD: "Wann wir schreiten Seit’ an Seit’ und die alten Lieder singen."

Seit’ an Seit’ marschierten denn auch in Wien die Gewerkschaft (Wolfgang Katzian), die Arbeiterkammer (Renate Anderl), die Frauen (Marina Hanke) und nicht – oder doch – zuletzt die Löwelstraße (Pamela Rendi-Wagner). Seit’ an Seit’ taten sie das mit ausgewählten Heldinnen und Helden der Arbeit, ohne die es in der Krise nicht gegangen wäre. Und die sich nun, bloß beklatscht, verhöhnt vorkämen, sodass die Sozialdemokratie sich für sie klassenkämpferisch in die Bresche werfen müsse. Ja werde.

Mit Hut

Wolfgang Katzian – ihn kann der Kopf sich vorstellen als Rampensau auf dem Rathausplatz – ruft:_"Die Sozialdemokratie hat den Sozialstaat nicht nur gebaut, sondern gegen alle neoliberalen Angriffe verteidigt." Katzian ist einer der ganz wenigen, die noch den schönen Anton Benya’schen Zungenschlag haben, der weder vorm engen "ei" noch vorm Meidlinger "l" sich scheut. Denen, die dem Markt gehuldigt haben, richtet er, Daumen und Zeigefinger nur knapp auseinanderhaltend, aus: "De san jetzt so kla. Mit Huat!"

Man müsste einmal eine sprachsoziologische Analyse des sozialdemokratischen Kampfeswillens wagen. Klingt das "Jetzt san de so kla mit Huat" nur anders als Rendi-Wagners Feststellung, jetzt sei der Neoliberalismus am Ende? Oder ist es das auch?

Eine Antwort darauf hat der heurige 1. Mai offengelassen. Da muss man wohl auf den 6. warten. Da trifft sich – virtuell, klarerweise – der Parteivorstand, um über das und mehr zu beraten, was der 1. Mai in seiner Feierlaune bloß besungen hätte.

Man hätte – und hat, aber halt nur virtuell – das Wienerischste aller sozialdemokratischen Wienerlieder angestimmt. Jenes Lied, das die Arbeit – in der Krise wieder zum Hauptthema geworden – fast sakral hochleben lässt. "Stimmt an das Lied der hohen Braut, / die schon dem Menschen angetraut / eh’ er selbst Mensch war noch." Dann hätte man, fäusteballend, die Internationale angestimmt, ohne die Ironie zu merken. "Ein Nichts zu sein, tragt es nicht länger."

Und ciao

Irgendwann hätte man sogar das schöne Lied gesungen von den stolzen Arbeitern in Wien. Das fängt so an: "Wir sind das Bauvolk der kommenden Welt / Wir sind der Sämann, die Saat und das Feld / Wir sind die Schnitter der kommenden Mahd. / Wir sind die Zukunft und wir sind die Tat."

Der Text wurde, leitmotivisch, in der virtuellen Welt durch ein kommodes "La, la, la" ersetzt. Die Melodie des Refrains – "So flieg, du flammende, du rote Fahne, / voran dem Wege, den wir zieh’n. / Wir sind der Zukunft getreue Kämpfer. / Wir sind die Arbeiter von Wien" – klingt leicht an ans Bella ciao, das, entkernt gewissermaßen, unlängst wieder ein Ohrwurm geworden ist.

Mit uns zieht die neue Zeit. (Wolfgang Weisgram, 1.5.2020)