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Oft genügt schon die Änderung eines Details, um eine ernste Situation ins Komische zu überführen. Im Lauf von 130 Jahren Sherlock Holmes, 60 Originalwerken sowie ungezählten Hommagen und Adaptionen haben wir erlebt, wie hunderte, ja vielleicht tausende Personen die Adresse Baker Street 221B aufgesucht haben, um den Meisterdetektiv um Hilfe zu bitten. Hier ist es ein Marsianer, der seine Tentakel auf der Chaiselongue ausstreckt – und die gute Mrs Hudson ist entsetzt:

"Mr Holmes!" she cried. "Would you credit it, but there's one of those horrible Martian creatures downstairs, and it says it wants to see you promptly!" My friend smiled. "Then if you would kindly show the fellow up, Mrs Hudson." "And have it leave its dreadful slime all over my new carpets?"

Die aufgepeppte Jahrhundertwende

Ja, die Marsianer aus "Krieg der Welten" sind zurückgekehrt, und sie haben ... sich entschuldigt. Die Invasoren der 1890er Jahre hätten einer Kriegstreiberpartei angehört, die mittlerweile gestürzt wurde. Zum Beweis, dass man an einem friedlichen Zusammenleben interessiert sei, haben die Menschen diverse Marstechnologie zum Geschenk erhalten. Flugautos und Pauschalreisen zum Nachbarplaneten gehören nun zum Alltag des frühen 20. Jahrhunderts. Teil der Skyline der modernisierten Städte sind aber auch die einst gefürchteten marsianischen Tripods. Die stehen immer noch irgendwie ominös wirkend in der Gegend herum und heulen jeden Abend den Sonnenuntergang an.

Der Fall, mit dem Holmes in der eingangs geschilderten Szene konfrontiert wird, dient freilich nur zum Aufwärmen und ist im Handumdrehen gelöst. Immerhin spricht Holmes inzwischen fließend Marsianisch (was sich im weiteren Verlauf noch als äußerst nützlich erweisen wird) und hat die Encyclopaedia Martiannica von vorne bis hinten studiert. Seine Neugierde ist also sofort geweckt, als zwei Jahre später ein weiterer außerirdischer Fall an ihn herangetragen wird: Ein angeblich marsberühmter Philosoph sei ermordet worden – der in besagter Encyclopaedia aber mit keinem Wort erwähnt wird. Also reist Holmes zum Roten Planeten, natürlich begleitet von Dr. Watson, der ganz wie es sich gehört als Erzähler des Geschehens fungiert.

Was wird Holmes auf dem Mars vorfinden?

Obwohl sich der Großteil der Handlung von "The Martian Menace" auf der Erde abspielt, bleiben wir doch lange genug auf dem Mars, um ihn ein bisschen besser kennenzulernen: seine Kanäle (von wegen "natürliche Formationen"!), seine dunklen Kuppeln und Ziggurate. Und wir erfahren auch von einem Seitenzweig der Marsianer in der Nordpolregion, mit dem es ständig Wickel gibt. Die offizielle Geschichte von Kriegstreibern versus Pazifisten könnte also stimmen. Einige politische Aktivisten auf der Erde trauen den angeblich friedlichen Marsianern aber nicht über den Weg und befürchten, dass diese eine zweite Invasion planen. Es wird an Holmes liegen, die Wahrheit herauszufinden.

Eine wichtige Rolle spielt dabei die überaus patente Freya Hamilton-Bell, die immer wieder an unerwarteter Stelle auftaucht – etwa in einem zum Schreien komischen Gummikostüm mit Tentakeln in einem marsianischen Restaurant. Körpertarnung ist generell ein wichtiges Element des Romans, ich werfe nur mal kurz das Stichwort Simulacra in den Raum. Und auch Holmes wird hier sein bekanntes Faible für Verkleidungen wieder einmal ausleben dürfen; eines der vielen Elemente in "The Martian Menace", mit denen der britische Autor Eric Brown dem Original Tribut zollt.

Dazu kommen noch die liebenswert altbackene Sprache und ein Reigen bekannter Nebenfiguren, teils aus dem Kanon von Arthur Conan Doyle, teils auch von außerhalb. So mischt etwa ein gewisser Herbert Wells im Geschehen mit, ein glückloser Autor, der sich als wissenschaftlicher Berater in der marsianischen Botschaft von London verdingt ...

Weitere Abenteuer

Unter dem Sammeltitel "The Further Adventures of Sherlock Holmes" hat der Verlag Titan Books im vergangenen Jahrzehnt knapp drei Dutzend Romane von verschiedenen Autoren herausgegeben. Das Corporate Design (siehe Titelbild) verdeckt etwas, dass es sich dabei in Wahrheit um einen recht bunten Strauß handelt. Zum Teil sind es brandneue Titel – wie auch dieser hier. Eric Brown ist bislang nur sporadisch ins Deutsche übersetzt worden, obwohl er seit Anfang der 90er aktiv ist und bereits auf ein sehr umfangreiches Werk aus Science Fiction, Krimis und Jugendbüchern zurückblicken kann. Auch Abstecher zu den Klassikern des Genres wie etwa Jules Verne hat er schon unternommen.

Zum Teil handelt es sich bei den "weiteren Abenteuern" aber auch um Reissues älterer Werke. Darunter etwa Philip José Farmers "The Peerless Peer" aus dem Jahr 1974, in dem Sherlock Holmes und Dr. Watson auf Tarzan treffen. Farmer war seinerzeit berühmt (und ein bisschen berüchtigt) dafür, sich alte Pulp-Helden wie Tarzan oder Doc Savage anzueignen und ihnen neue wilde Abenteuer anzudichten. Die "Further Adventures" gehen nach dem selben Grundprinzip vor und konfrontieren den Meisterdetektiv in variierendem Phantastik-Grad unter anderem mit Harry Houdini, Dr. Caligari oder Graf Dracula.

Oder eben auch mit den Marsianern – und das nicht zum ersten Mal. 1975 veröffentlichte Pulp-Autor Manly Wade Wellman seinen Roman "Sherlock Holmes's War of the Worlds". Auch darauf hat Brown nicht vergessen, er übernimmt für seine Geschichte eine von Wellmans Figuren. "The Martian Menace" ist also ein Sequel zu den Werken Arthur Conan Doyles und zu "Krieg der Welten" und zur ersten Verschmelzung der beiden.

Macht Spaß!

Stephen Baxters "Krieg der Welten"-Fortsetzung "Das Ende der Menschheit" mag schreiberisch beeindruckender gewesen sein, weil sie die Erzählweise von H. G. Wells gekonnt imitierte. Browns Crossover-Roman macht das durch seinen Unterhaltungswert wett. "The Martian Menace" ist eine mit Liebe zum Detail und offensichtlichem Spaß an der Freud gestaltete Hommage an die Gründerväter der Genreliteratur und als solche eine vergnügliche Lektüre. Und das, obwohl das Damoklesschwert einer möglichen planetenweiten Invasion über den Beteiligten hängt. Aber selbst im Angesicht einer solchen Gefahr unverdrossen und stets mit einem kultivierten Spruch auf den Lippen weiterzumachen, ist ja auch irgendwie very british.