In China könnten über 70 Millionen Wanderarbeiter durch die Corona-Krise ihren Job verloren haben. Inoffizielle Schätzungen zur Arbeitslosigkeit stehen jedoch im Widerspruch zu offiziellen Daten.

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Die Sozialarbeiterin Guo Jing wundert sich seit einigen Tagen: "Mir fällt auf, dass viele die großen Städte verlassen, weil sie sich das Leben hier nicht mehr leisten können." Die 29-Jährige ist erst im vergangenen November nach Wuhan gezogen. Nun nach zwei Monaten Lockdown könne von Normalität noch keine Rede sein. "Überall braucht man nun Genehmigungen", sagt sie. "Und viele Geschäfte haben noch immer geschlossen." Die Auslastung der öffentlichen Verkehrsmittel liegt bei gerade einmal 20 Prozent des Vorkrisen-Niveaus.

Wirtschaftlich sei der Schaden immens. "Viele haben ihre Arbeit verloren. Unternehmen sind bankrott gegangen." Guo spricht ein Thema an, das die Führung in China noch einige Zeit beschäftigen dürfte. Chinas Abschwung dürfte vor allem die unteren Bevölkerungsschichten und den Binnenkonsum treffen. Um 40 Prozent ist die Wirtschaftsleistung Hubeis, dem Epizentrum der Pandemie, im ersten Quartal gefallen. Landesweit fiel das chinesische Bruttoinlandsprodukt um sechs Prozent. Einen Rückgang hatte das Land zuletzt während der Kulturrevolution – vor über 40 Jahren – erlebt.

Inoffiziell hohe Arbeitslosigkeit

Zwar gibt es erste Anzeichen der Erholung: Vor allem die großen Unternehmen laufen wieder, die Pharma- und Elektronik-Branche konnten sich bereits im März wieder erholen. Der Automobil-Absatz dagegen ist noch immer mehr als 20 Prozent geringer als im Vorjahr. Doch offiziell lag Chinas Arbeitslosenquote im März bei lediglich 5,9 Prozent. Die chinesische Maklerfirma Zhongtai Securities schätzt dagegen, dass mehr als 70 Millionen Wanderarbeiter durch die Corona-Krise ihren Job verloren haben. Das entspräche einer Arbeitslosenquote von 20 Prozent.

Dass es zu einer solche krassen Differenz kommen kann, liegt am Hukou-System, dem Melderegister Chinas. Jahrzehntelang basierte Chinas Wirtschaftsaufschwung auf einer mobilen Masse von Wanderarbeitern. Zwischen 200 und 300 Millionen Menschen in China haben ihren Hauptwohnsitz irgendwo auf dem Land in einer der Inlandprovinzen. Weil die Einkommen dort niedrig sind, waren selbst schlecht bezahlte Jobs in den Fabriken an der Ostküste attraktiv.

Zudem stiegen die Gehälter in den vergangenen Jahren stetig. Die Großeltern auf dem Land übernahmen die Kinderbetreuung. Die meisten Eltern sahen ihre Kinder einmal im Jahr – zum Frühlingsfest, das dieses Jahr mit dem Ausbruch der Corona-Krise zusammenfiel. In der Arbeitslosenstatistik aber tauchen diese Menschen nicht auf. Gezählt werden nur Stadtbewohner, die sich zudem die Mühe gemacht haben, sich durch den bürokratischen Berg durchzuarbeiten, den eine solche Meldung erfordert.

Erschütterter Fortschrittsglaube

"Zum ersten Mal hat Peking Probleme, sein Beschäftigungsziel zu erreichen, welches bei elf Millionen Jobs 2020 liegt", heißt es in einem Bericht des Mercator Instituts für China-Studien in Berlin, Merics. Betroffen sind davon in erster Linie Wanderarbeiter. Das Problem aber könnte sich auf Facharbeiter ausweiten, wenn noch mehr kleinere und mittlere Unternehmen Insolvenz anmelden müssen. Auch die Mittelschicht trifft die Krise: 8,74 Millionen Universitätsabsolventen haben dieses Jahr düstere Job-Aussichten. Das verfügbare Einkommen ist nun zum ersten Mal seit Jahrzehnten um 3,9 Prozent gesunken.

Für viele Chinesen ist das eine völlig neue Erfahrung: Ganze Generationen kannten bisher nur Fortschritt. Während man in Mittel- und Westeuropa mit dem latenten Gefühl "Früher war alles besser" aufwuchs, waren das chinesische Leben spätestens seit den Neunzigern von einem "Früher war alles schlechter" geprägt. Die politische Instabilität, die daraus entsteht, dürfte der Führung in Peking einiges Kopfzerbrechen bereiten. (Philipp Mattheis aus Schanghai, 2.5.2020)