Im Park der Villa Doria Pamphili in Rom darf seit Montag wieder gesessen und/oder gejoggt werden.

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Nun ist es endlich vorbei, dieses Gefühl des Eingesperrtseins, der Isolation, der erzwungenen Trägheit und Langeweile: Eine ganze Nation hat hörbar aufgeatmet. Dank der Lockerungen, die die Regierung Conte für den 4. Mai verfügt hat, konnten am Montag mehr als vier Millionen Italiener wieder zur Arbeit zurückkehren. Und die übrigen vier Millionen Italiener, die sich nach wie vor in den Zwangsferien befinden, weil sie nicht in "strategisch wichtigen" Branchen arbeiten, konnten wenigstens wieder einmal richtig an die frische Luft: Joggen am Meer und in Parks, Wandern in den Bergen, Fahrradfahren, Einkaufen in Geschäfte, die sich nicht im eigenen Wohnquartier befinden, Besuche bei Verwandten: Das ist nun in Italien alles wieder erlaubt.

Zumindest auf Zeit: Die "Phase 2", wie in Italien der erste Schritt zurück in die Normalität genannt wird, sei kein "liberi tutti", kein Freipass um zu tun und zu lassen, wonach einem gerade der Sinn steht, warnte Ministerpräsident Giuseppe Conte am Vorabend der Lockerungen. Er appellierte an die Selbstverantwortung der Bürgerinnen und Bürger: "Der Neuanfang liegt ganz in unseren Händen: Wir als Gemeinschaft werden entscheiden, ob die neue Phase ein Erfolg wird und definitiv ist – oder ob es eine schmerzhafte Rückkehr zu den bisherigen Maßnahmen geben wird", mahnte der Premier. Mehr denn je sei jetzt die Mitarbeit und die Respektierung der Regeln durch die Bürgerinnen und Bürger erforderlich.

Meter Abstand

Die zentrale Regel ist und bleibt: Bei jedem Kontakt mit anderen Personen ist eine Sicherheitsdistanz von mindestens einem Meter einzuhalten; in geschlossenen Räumen herrscht Maskenpflicht. Jede Ansammlung von mehr als zwei Personen ist ebenfalls weiterhin verboten. Zumindest am ersten Tag nach der "Befreiung" hat das ziemlich gut funktioniert. In den öffentlichen Verkehrsmitteln Roms und vieler anderer Städte wurde die Kapazität der einzelnen Busse, Trams und U-Bahnen um die Hälfte reduziert. Wer konnte, benutzte aus Angst vor Ansteckung ohnehin das eigene Auto – das befürchtete Verkehrschaos auf den Straßen blieb trotzdem weitgehend aus.

Die Regierung, die eine neue Ansteckungswelle unter allen Umständen verhindern will, hatte in der vergangenen Woche zunächst deutlich vorsichtigere Öffnungen angekündigt. Doch unter dem Druck der Unternehmerverbände und der von Lega-Chef Matteo Salvini angeführten rechten Opposition wurden die konkreten Ausführungsbestimmungen offener formuliert. Dabei blieb Konfusion nicht aus: Die italienischen Medien übten sich tagelang in der Kunst des Interpretation der neuen Regeln – und sind sich bis heute nicht einig. Ein Beispiel: Spazierengehen ist offiziell weiterhin nicht gestattet – "Walking" dagegen schon, weil es sich dabei um eine erlaubte "körperliche Ertüchtigung" handelt.

Bars und Restaurants in Kalabrien offen

Zum Regel-Chaos beigetragen haben außerdem einige Regionen, die in den letzten Tagen mit verhältnismäßig liberalen eigenen Bestimmungen vorgeprescht sind. So hat etwa Kalabriens Regionalpräsidentin Jole Santelli angesichts der sehr tiefen Fallzahlen in ihrer südlichen Region angeordnet, dass Bars und Restaurants, die Tische im Freien anbieten können, wieder öffnen dürfen. Gemäß dem Dekret der Regierung müssten die Gastronomiebetriebe aber noch bis Ende Mai geschlossen bleiben. Regionenminister Francesco Boccia hat angekündigt, dass er gegen das eigenmächtige Vorgehen in Kalabrien vorgehen wolle. Am Ende wird ein Verwaltungsgericht entscheiden müssen, ob Santellis Erlass rechtens war.

Dass nun auch die zunächst sehr zurückhaltende Regierung die Zügel gelockert hat, ist vor allem der Entwicklung der Epidemie in Italien zu verdanken: Die Zahl der Neuansteckungen hat sich, obwohl auch während des Lockdowns noch mehr als zehn Millionen Italiener täglich zur Arbeit gefahren sind, deutlich reduziert. Die Zahl der Covid-Toten ist von täglich fast 1.000 im März auf durchschnittlich 200 zurückgegangen, Tendenz immer noch sinkend. Die Zahl der Covid-Patienten in den Intensivstationen hat sich seit dem Höhepunkt der Epidemie mehr als halbiert. Selbst im Spital von Bergamo, das zum Sinnbild der völlig überlasteten Krankenhäuser in Norditalien geworden war, herrscht wieder Normalbetrieb. Der Lockdown hat funktioniert.

Zugleich zeigt sich in Zahlen zur Übersterblichkeit das Ausmaß der Pandemie: Die Zahl der Todesfälle im März ist in Italien um 49,4 Prozent gegenüber dem Vergleichsmonat 2019 gestiegen, wie das italienische Statistikamt Istat berichtete. Im Raum von Bergamo, Epizentrum der Coronavirus-Pandemie, wurde im März ein Zuwachs von 568 Prozent gegenüber dem Vergleichsmonat 2019 gemeldet. In der lombardischen Stadt Cremona betrug der Zuwachs 391 Prozent, in Lodi 371 Prozent und Brescia 291 Prozent.

Weitere Lockerungen in Aussicht

Italien war als erstes Land Europas von der Corona-Pandemie getroffen worden – und das in äußerst schwerer Weise: Bei mehr als zwei Millionen vorgenommenen Rachenabstrichen sind bisher mehr als 210.000 Personen positiv getestet worden. 29.000 der Infizierten sind inzwischen gestorben; 82.000 von ihnen gelten als geheilt. Die nächsten Lockerungen hat die Regierung für den 18. Mai und den 1. Juni in Aussicht gestellt – sofern die Fallzahlen aufgrund der seit gestern geltenden Freiheiten nicht wieder ansteigen werden. Die Schulen, Kindergärten und Universitäten bleiben aber auf jeden Fall noch bis September geschlossen. (Dominik Straub aus Rom, 4.5.2020)