Die Ausgangsbeschränkungen sollten ab 12. Mai gelockert werden, eine Verlängerung ist im Gespräch.

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Die Bilder haben sich den Moskauern eingebrannt: kilometerlange Staus an den Einfahrtsstraßen und ein riesiges Gedränge an den Eingängen zur Metro, der Moskauer U-Bahn, dem Hauptverkehrsmittel der Stadt. Die Einführung elektronischer Passierscheine am 15. April führte zu einem riesigen Chaos, das dem Durcheinander an den US-Flughäfen nach dem hastigen Einreiseverbot ähnelte. Die Polizei war mit der Kontrolle der Passierscheine am ersten Tag schlicht überfordert. Nun, zwei Wochen später, verzeichnen russische Behörden einen sprunghaften Anstieg der Infektionszahlen. Jeweils mehr als 10.000 neue Fälle wurden in den letzten zwei Tagen bekannt, der Großteil davon in Moskau. Zufall oder nicht – das Image von Moskaus Oberbürgermeister Sergej Sobjanin als Krisenmanager hat gelitten.

Es ist ohnehin eine Gratwanderung, auf der sich die russische Führung befindet. Sie muss die Ausbreitung von Covid-19 bremsen, darf gleichzeitig aber die ohnehin schon schwer getroffene Wirtschaft nicht völlig abwürgen. Nachdem sich die Hoffnung zerschlug, die Pandemie werde Russland umgehen, hat sie die Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung schrittweise verschärft. Erst setzte sie Urlauber, die aus dem Ausland zurückkehrten, unter Quarantäne, dann Moskauer Rentner und schließlich das ganze Volk – inklusive eineinhalbmonatiger Betriebsferien. Was die Beamten freut, ärgert Unternehmer, aber auch einfache Angestellte, die um Einkommen und Löhne fürchten.

Die von Moskau auf die Regionen übergreifende Praxis des Passierscheinregimes, um die von der politischen Führung verordnete "Selbstisolierung" der Russen zu kontrollieren und durchzusetzen, ruft zusätzlichen Frust hervor. Vor allem, wenn ihre Zweckmäßigkeit im Kampf gegen die Verbreitung von Covid-19 infrage steht.

Mehr Tests – höhere Zahlen

Die Obrigkeit verbindet den rapiden Ausschlag nach oben – innerhalb weniger Tage haben sich die Infektionszahlen fast verdoppelt, und Russland liegt nun weltweit in der Statistik mit gut 145.000 Fällen hinter Deutschland auf Rang sieben – nicht mit dem anfänglichen Chaos bei der Passierscheinkontrolle. Sobjanin macht hingegen die verstärkte Anzahl an Tests für die Entwicklung der Zahlen verantwortlich.

Und trotzdem vermitteln auch die neuen Tests noch nicht das ganze Bild: Sobjanins Einschätzung nach haben sich inzwischen etwa zwei Prozent der Moskauer mit dem Virus Sars-CoV-2 angesteckt. Das entspräche rund dem Vierfachen der offiziell 74.400 infizierten Moskauer. Die meisten davon zeigen wenige oder gar keine Symptome, doch auch so ist die Lage bereits kritisch, selbst Premier Michail Mischustin musste bereits wegen Covid-19 in ärztliche Behandlung. Viele Krankenhäuser arbeiten am Limit.

Hatte die Gesundheitsbehörde zunächst den Höhepunkt der Krise schon Ende April gesehen, wurden diese Zahlen inzwischen eilig einkassiert. Der Kreml hofft weiter darauf, dass zumindest Mitte Mai der Peak erreicht wird. Denn während in Moskau das von Sobjanin schon vor Wochen mobilisierte Gesundheitssystem mit dem Ansturm an Patienten noch fertig wird, haben viele Regionen die Vorbereitung auf die Pandemie verschlafen.

Probleme in den Regionen

Noch ist das Epizentrum der Seuche in Moskau, aber die Tendenz in den Regionen zeigt ebenfalls stark nach oben – und hier drohen die größten Konsequenzen, denn anders als in der Hauptstadt gibt es auch wenig finanzielle Reserven, um auf die Schnelle neue Krankenhausbetten, Beatmungsgeräte oder medizinisches Personal zu requirieren. Die derzeit noch moderate Todesrate würde dadurch massiv ansteigen.

Auf der politischen Entscheidungsebene wird daher bereits die nächste Verschärfung der Quarantänemaßnahmen durchgespielt. Bislang gilt weiter das von Putin Ende März verhängte und dann bis zum 11. Mai verlängerte Regime der "arbeitsfreien Tage". Doch sollten die von den Russen traditionell zum Datscha-Ausflug und Grillen genutzten Maifeiertage zu einer weiteren Verschärfung der Situation führen, wird die Ausgangssperre wohl nicht nur verlängert, sondern die Durchsetzung auch massiv forciert. Schon jetzt hat der Kreml wegen Covid-19 der Polizei beispiellose Rechte gegeben. So können Polizisten Autos knacken, Häuser absperren und ohne Vorwarnung schießen. (André Ballin aus Moskau, 4.5.2020)