Der zweite Senat des deutschen Bundesverfassungsgerichts erklärte die Anleihenkäufe durch die Europäische Zentralbank für teilweise verfassungswidrig.

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Was ein Volkswirt als "kleinen Paukenschlag" bezeichnet, stellt für einen anderen den "Big Bang" dar. Man kann die Entscheidung der deutschen Verfassungsrichter auf verschiedene Weisen lesen, aber eines stellten sie unmissverständlich dar: Das als PSPP bezeichnete Wertpapierkaufprogramm, mit dem die EZB seit März 2015 Staatsanleihen im Wert von 2,2 Billionen Euro gekauft hat, widerspricht teilweise dem deutschen Grundgesetz, ist also verfassungswidrig.

"Bundesregierung und Deutscher Bundestag sind aufgrund ihrer Integrationsverantwortung verpflichtet, der bisherigen Handhabung der PSPP entgegenzutreten", heißt es in dem am Dienstag verkündeten Urteil. Soll heißen: Deutschland darf bei den Anleihenkäufen der EZB in derzeitiger Form nicht mehr mitziehen – sofern es der Notenbank binnen drei Monaten nicht gelingt, die Bedenken der Verfassungsrichter auszuräumen.

Das würde die Handlungsfähigkeit der Währungshüter der Eurozone einengen, schließlich trägt die Deutsche Bundesbank als größter EZB-Anteilseigener einen erheblichen Teil der Staatsanleihenkäufe. Die Beteiligungen der nationalen Notenbanken entscheiden darüber, wie viele Anleihen eines Mitgliedsstaats erworben werden – also sehr viele in Deutschland. Ende 2018 wurde das Programm ausgesetzt, seit November kauft die EZB in dessen Rahmen wieder Anleihen im Wert von 20 Milliarden Euro pro Monat.

Corona-Hilfen nicht betroffen

Nicht Gegenstand der aktuellen Entscheidung der Verfassungsrichter in Karlsruhe waren die aktuellen Corona-Hilfen der EZB, für die ein eigenes Vehikel namens PEPP auf Schiene gebracht wurde. Dieses sieht als explizites Notfallprogramm zur Krisenbewältigung in der Eurozone Anleihenkäufe im Volumen von 750 Milliarden Euro bis Jahresende 2020 vor.

Konkret sehen die Richter das Grundgesetz verletzt, indem die EZB bei dem Anleihenkaufprogramm PSPP, das nicht in höchster Not gestartet wurde, nicht auf die Verhältnismäßigkeit geachtet habe. Das Programm habe "erhebliche ökonomische Auswirkungen" auf fast alle Bürger, die als Aktionäre, Mieter, Eigentümer von Immobilien, Sparer und Versicherungsnehmer betroffen seien, sagte Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle. Die EZB hätte also stärker die wirtschaftlichen Folgen in Deutschland bedenken und argumentieren müssen.

Damit haben die Beschwerdeführer vor den Karlsruher Verfassungsrichtern, darunter der frühere CSU-Politiker Peter Gauweiler und der Ex-AfD-Politiker und Parteigründer Bernd Lucke, nur einen Teilerfolg einfahren können. Die von ihnen behauptete verbotene Staatsfinanzierung durch die EZB sieht das Gericht jedenfalls nicht. Voßkuhle betonte zudem, dass man der EZB das Instrument "nicht von vornherein aus der Hand geschlagen" habe – was das Ziel der Euro-Skeptiker gewesen wäre. Allerdings wird sich die EZB künftig nicht mehr hinter der Argumentation verschanzen können, ihre Maßnahmen seien alternativlos, sondern wird dies auch belegen müssen.

Kaum Reaktion an Märkten

Nur einen "Bremsfaktor" sieht Raiffeisen-Chefanalyst Peter Brezinschek in dem Urteil aus Karlsruhe und verweist auf die äußerst verhaltene Reaktion der Finanzmärkte. "Offensichtlich nimmt man an, dass die EZB keine großen Probleme haben wird, die Verhältnismäßigkeit in den nächsten drei Monaten zu argumentieren." Auch Brezinschek geht von einer Lösung aus, denn "ohne Deutschland wäre die EZB amputiert."

Ähnlich stuft Ökonom Holger Schmieding von der Berenberg Bank die Entscheidung ein, die er als "kleinen Paukenschlag" bezeichnet. Karlsruhe habe die Grenzen für Anleihekäufe betont, in der Praxis dürfte es die EZB aber nicht allzu sehr einschränken. ING-Chefvolkswirt Carsten Brzeski erwartet jedoch, dass das Urteil der EZB in der Erholungsphase nach der Krise Probleme bereiten wird – weshalb er darin einen "Big Bang" sieht.

Um einen solchen handelt es sich wohl auch deshalb, weil sich das Bundesverfassungsgericht erstmals gegen ein EuGH-Urteil stellte, das Ende 2018 das Anleihenkaufprogramm abgenickt hatte. Deshalb erinnert die EU-Kommission an den Vorrang europäischen Rechts, das EuGH-Urteil sei bindend. Das sehen die deutschen Verfassungsrichter anders: Es sei methodisch nicht mehr vertretbar und erscheine objektiv willkürlich. (Alexander Hahn, 5.5.2020)