Die Bezüge zwischen Klimakrise und Corona wurden auch bei einer Fridays-for-Future-Demonstration Ende April in Stuttgart thematisiert.

Foto: Imago / Arnulf Hettrich, Wolfgang Siesing , Raffael Alexander de Araujo

In den vergangenen Jahren haben sich dystopische Fantasien vor allem vom Klimawandel genährt. Nun ist es ein Virus, das nicht nur die Marschrichtung unserer Katastrophenängste vorgibt, sondern die Welt tatsächlich in einen vor wenigen Monaten noch unvorstellbaren Ausnahmezustand versetzt hat.

Wochenlange Ausgangssperren, geschlossene Schulen und eine aufs Nötigste heruntergefahrene Wirtschaftsaktivität werden von der Bevölkerung bislang weitgehend akzeptiert, damit das Ansteckungsrisiko reduziert und das Überleben möglichst vieler Covid-19-Patienten gesichert werden kann.

Im Vergleich dazu sind die in der Vergangenheit getroffenen Maßnahmen zur Abschwächung der Klimawandelfolgen bescheiden. Und das, obwohl eine ungebremste Erderwärmung viel mehr vorzeitige Todesfälle und ungleich höhere Kosten verursachen wird, wie Studien prognostizieren.

Ungleiche Behandlung

Warum werden diese beiden Bedrohungen von Regierungen und Individuen dermaßen unterschiedlich wahrgenommen und behandelt? Der an der Universität Graz lehrende Philosoph und Klimaethiker Lukas Meyer hat sich gemeinsam mit seinem brasilianischen Kollegen Marcelo de Araujo, Professor für Ethik und Rechtsphilosophie an zwei Universitäten in Rio de Janeiro, auf Ursachensuche begeben.

Einen zentralen Grund für die Ungleichbehandlung sehen die beiden Ethiker im unterschiedlichen Ausmaß an internationaler Kooperation, das zur Problemlösung nötig ist. "Die Maßnahmen gegen Covid-19 sind zeitlich begrenzt und gehen von den einzelnen Nationalstaaten zum Schutz vor allem der eigenen Bevölkerung aus", sagt Meyer, der auch als Sprecher des vom österreichischen Wissenschaftsfonds FWF geförderten interfakultären Doktoratskollegs "Klimawandel" fungiert.

Politiker würden es wagen, radikale Einschränkungen des privaten, öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens zu verordnen, da sie von der Bevölkerung danach beurteilt werden, wie gut sie ihr Land durch die Krise bringen.

"Die gegenwärtig Lebenden können für die Not künftiger Menschen verantwortlich gemacht werden." Lukas Meyer, Philosoph und Klimaethiker
Foto: Wolfgang Siesing

Vergleichbar drastische und wirksame Maßnahmen zum Klimaschutz würden die Chancen auf eine Wiederwahl dagegen reduzieren. Denn "die Mehrheit der Wähler müsste die Kosten dieser Transformationspolitik tragen, ohne davon spürbar zu profitieren", sagt der Klimaethiker. "Und die Jungen, deren künftiges Leben sich dadurch verbessern würde, sind gerade in den Ländern mit den höchsten Emissionen in der Minderheit."

Während tiefgreifende Anti-Corona-Maßnahmen vor allem mit Blick auf innerstaatlichen Nutzen ergriffen werden, betreffen die positiven Effekte von Klimaschutzaktivitäten die gesamte Menschheit. Es bedürfte einer konsequenten internationalen Zusammenarbeit, um entsprechende Vorgaben durchzusetzen.

Die bisherige Erfahrung mit derartigen Bemühungen stimme wenig optimistisch. "Was den Klimawandel betrifft, ist das Staatensystem ein großer Teil des Problems", ist Marcelo de Araujo überzeugt. "Es gleicht einem ins Trudeln geratenen Flugzeug ohne Pilot, dessen Absturz die meisten Passagiere wahrscheinlich nicht überleben werden."

Moralische Verantwortung

Es sind aber nicht nur die heute jungen Menschen, die massiver als ihre Eltern und Großeltern von den Folgen des Klimawandels betroffen sein werden. Auch die Bevölkerung des globalen Südens, die zudem kaum über die Ressourcen für eine Anpassung an die neuen Umweltbedingungen verfügt, hat darunter sehr viel mehr zu leiden als die reichen Nationen.

Zugleich haben die am stärksten gefährdeten Gruppen zur Entstehung der Problematik besonders wenig beigetragen und verfügen auch nur über geringen politischen Einfluss. Daraus leite sich, so Meyer, eine besondere moralische Verantwortung der Hauptverursacher der Klimakrise ab.

"Was den Klimawandel betrifft, ist das Staatensystem ein großer Teil des Problems." Marcelo de Aranjo, Philosoph
Foto: privat

Und was ist mit jenen Menschen, die heute noch gar nicht geboren sind? Gelten für diese künftigen Generationen eigentlich auch Rechte, die man schon heute berücksichtigen müsste? "Ja, durchaus", ist der Philosoph überzeugt und führt eine Reihe von Begründungen dafür an. "In anderen Kontexten schreiben wir ja auch jenen Menschen Rechte zu, die nicht selbst für ihre Interessen eintreten können – Kleinkindern etwa oder geistig beeinträchtigten Personen."

Zudem gelten moralische Überlegungen sowohl in Hinblick auf lebende als auch auf noch nicht oder nicht mehr existierende Menschen. "Die gegenwärtig Lebenden können also moralisch für die Not und das Leiden zukünftiger Menschen verantwortlich gemacht werden", sagt Lukas Meyer.

Gehe man davon aus, dass noch nicht geborene durch aktuell lebende Menschen geschädigt werden können, müsse man den zukünftigen Generationen auch berechtigte Ansprüche zugestehen. Aber verlieren diese moralischen Ansprüche mit zunehmender zeitlicher Distanz nicht an Geltung? Muss man sich wirklich für die potenziellen Klimaleiden der Ururenkel seiner Zeitgenossen verantwortlich fühlen?

"Die Annahme, dass die Interessen und Bedürfnisse zukünftiger Menschen aufgrund der zeitlichen Entfernung weniger Gewicht haben, ist ebenso willkürlich wie die Annahme, dass die Interessen der Armen in anderen Teilen der Welt weniger zählen sollen, nur weil sie geografisch weit von uns entfernt sind", sagt Meyer.

Künftige Klimaopfer

Selbst wenn man die Rechte möglicher künftiger Klimaopfer und die eigene Verantwortung akzeptiert, bleibt immer noch die Frage nach den konkreten Maßnahmen. In dieser Hinsicht hat sich bislang ja wenig getan. Allerdings könne man aus der Covid-19-Pandemie durchaus Lehren für den Umgang mit der Klimakrise ziehen, sind die beiden Philosophen überzeugt.

Immerhin habe sich in den vergangenen Monaten gezeigt, dass man mit einigen Umstellungen auch weniger emissionsintensiv ganz gut leben kann – Stichwort Homeoffice oder Einschränkung von Autofahrten und Flugreisen. "Es wäre aber naiv zu glauben, dass wir die Pariser Klimaziele bottom-up erreichen können", dämpft Meyer allzu großen Optimismus. Allein mit Selbstverpflichtungen und sozialem Druck die Emissionen bis 2050 auf nahezu null zu drücken, sei unrealistisch.

Deutliche Zeichen

Nun gehe es daher darum, die Politik zu einschneidenden strukturellen Maßnahmen zu drängen. Wie das gelingen soll? "Indem die Bevölkerung deutliche Zeichen setzt, dass sie für Änderungen bereit ist und diese von den Entscheidungsträgern auch fordert." Das hat die Fridays-for-Future-Bewegung schon vor Corona getan.

Ob diese nach der Pandemie politisch mehr bewirken wird? Daran kann Lukas Meyer angesichts des gegenwärtigen globalen Staatensystems und des bereits vielerorts angekündigten Nachholbedarfs in Sachen Wirtschaftswachstum dann doch nur mit Mühe glauben. Bleibt zu bedenken, dass auch ein Paradigmenwechsel eine gewisse Inkubationszeit braucht. (Doris Griesser, 13.5.2020)