Viele frei beschäftigte Künstlerinnen und Künstler fühlen sich durch die Höhere-Gewalt-Klausel benachteiligt und alleingelassen.

Imago / Martin Müller

"Force Majeure" – der klingende Begriff könnte eigentlich aus der Musiksprache stammen, er kommt aber aus der harten Welt der Juristerei: Allgemein bekannt ist der französische Fachterminus als "Höhere Gewalt", und regeln soll er in zahlreichen Rechtssystemen, wie sich schadensverursachende Ereignisse von außen – Krieg, Katastrophen, auch Seuchen – auf diverse Rechtsverhältnisse auswirken.

Prekär wirkt das im Zuge der Covid-19-Pandemie aktuell in der Bühnenbranche. Denn ein großer Teil der Sänger, Musiker, Schauspieler und des Bühnenpersonals, das im Hintergrund arbeitet, hat gerade seine liebe Not mit der "Force Majeure". Für viele von ihnen ist es zwar normal, kurzbefristete Arbeitsverhältnisse einzugehen – ein Gastspiel hier, ein Liederabend dort, ein Engagement für eine Saison –, allerdings werden die Verträge, die es dafür gibt, nun zum Problem. Vielfach beinhalten diese nämlich Höhere-Gewalt-Klauseln, die es den Bühnenchefs erlauben oder, je nach Interpretation, vorschreiben, Künstlern, die wegen der Covid-Absagen um ihre Gagen umfallen, keine Entschädigung zu zahlen. Mit "großem Bedauern" informierte etwa die Wiener Staatsoper Gastkünstler schon Anfang April per Mail, dass Honoraransprüche für Abgesagtes aufgrund der Höheren-Gewalt-Klausel erlöschen würden.

Verträge, die sich rächen

Viele wollten das nicht widerspruchslos hinnehmen, grenzüberschreitend formierten sich in den letzten Wochen Kritiker und Leidtragende. Sie verfassten Petitionen an die Regierungen und holten alternative Rechtsmeinungen ein. Denn ganz so klar, wie Staatsoper und andere Bühnen die Lage einschätzten, scheint es nicht zu sein, wie zum Beispiel der Fall des Kammersängers Tomasz Konieczny zeigt. Dem Bassbariton, seit Jahren auf Österreichs Bühnen zu sehen, wurde die Gage für je dreimonatige Arbeitsverträge an der Staatsoper und bei den Bayreuther Festspielen mit dem Argument der höheren Gewalt ersatzlos gestrichen.

Der Rechtsanwalt Georg Streit sowie die IG Freie Theater bekritteln angesichts dessen grundsätzlich, dass in der Bühnenbranche häufig Dienstvertragsnehmer unzutreffend wie Werkvertragsnehmer behandelt würden: Ein Gastsänger etwa, der ein Engagement über einen längeren Zeitraum mit fixen Auftritts- und Probenzeiten antritt, erbringe eine Dienstleistung und kein Werk. Von dieser Einordnung würde nach Ansicht der Kritiker abhängen, inwiefern Höhere-Gewalt-Klauseln überhaupt greifen.

Im Zusammenspiel mit den eilig beschlossenen Pandemiegesetzen ergibt sich also eine hochkomplexe Rechtsmaterie, "die man eigentlich ausjudizieren müsste", meint Rechtsanwalt Streit. Ein Musterprozess würde allerdings Jahre dauern und Künstler wie Bühnen finanziell belasten, also plädiert er dafür, dass die Regierung eine kulante Lösung für alle Seiten zuwege bringen möge.

Regierung verspricht Abhilfe

Der Opernsänger Wolfgang Ablinger-Sperrhacke, ein Initiator des europaweiten Protests gegen die Höhere-Gewalt-Klausel, sieht das genauso: "Wir scheuen rechtliche Klärungen nicht, aber im Interesse der Kulturnation sollten diese unbedingt vermieden werden, denn sie bergen ein hohes Risiko, für beide Seiten". Mit den jeweiligen Kulturverantwortlichen in Regierung und Institutionen sei man schon in Kontakt.

Auch aus dem Büro von Kulturstaatssekretärin Ulrike Lunacek (Grüne) heißt es auf STANDARD-Anfrage, dass man an einer Lösung arbeite. Es habe einen runden Tisch gegeben, man habe aber noch viele finanzielle und vertragsrechtliche Details zu klären. In Deutschland ist man indes schon weiter: Vergangene Woche verkündete CDU-Kulturstaatsministerin Monika Grütters, dass vom Bund geförderte Kultureinrichtungen Ausfallshonorare von bis zu 60 Prozent der Gage zahlen können. Erwartet wird, dass die Bundesländer nachziehen.

Hierzulande hatte Anfang April SPÖ-Kultursprecher Thomas Drozda Ähnliches gefordert. Er sieht aber nicht nur die Möglichkeit, sondern sogar Verpflichtung zu Entschädigungen gegeben: "Wenn alle großen Kultureinrichtungen richtigerweise ihre Förderungen weiter bekommen, auch wenn sie keine Veranstaltungen durchführen können, dann muss das Geld auch an die Künstler und Beschäftigten weitergegeben werden – egal bei welchem Vertrag".

Ruf nach rechtlicher Basis

Offiziell zeigen sich auf Nachfrage des STANDARD auch die Intendanten großer Bühnen einer kulanten Lösung gegenüber aufgeschlossen, im Hintergrund sorgen sie sich aber um rechtliche Tücken und die noch ungeklärte Finanzlage ihrer Häuser: "Das Problem ist, dass es den sogenannten Untreueparagrafen gibt. Wenn man etwas bezahlt, das vertraglich nicht vereinbart ist, auch aus sozial kulanten Gründen, ist man als Geschäftsführer wegen der Veruntreuung von Geldern haftbar. Das ist ausjudiziert und zwar nicht nur für den Kunstbereich", gibt Theater-an-der-Wien-Chef Roland Geyer zu bedenken. Staatsoperndirektor Dominique Meyer und Volksopernchef Robert Meyer fordern ebenfalls eine rechtliche Grundlage, bevor sie auszahlen.

Im Sprechtheater ist die Lage ähnlich. Laut IG-Theater-Sprecherin Ulrike Kuner zahlten auch die Landestheater keine Ausfallhonorare. Löbliche Ausnahmen würden das Landestheater St. Pölten und das Grazer Schauspielhaus bilden: Bei Letzterem haben Gäste prinzipiell keine Gastsolistenverträge, sondern "Stückverträge", die mit einem Dienstvertrag vergleichbar sind. Höhere-Gewalt-Klauseln gibt es da keine. (Stefan Weiss, Ljubiša Tošić, 5.5.2020)