Dieses Mutter-Tattoo wurde von Lisa Ill Tidings aus dem Tattoostudio "Vom Scheitel bis zur Sohle" entworfen.

Illustration: Lisa Ill Tidings

"Eine der frühesten Erinnerungen an meine Mutter ist ein riesiger Christbaum. Sie schmückte ihn, während ich mit meinem Vater im Wiener Rathauspark spazieren ging. Ich war wohl vier oder fünf Jahre alt. Meine Mutter wurde ein halbes Jahr vor Ausbruch des 1. Weltkriegs geboren. Sie absolvierte eine kaufmännische Lehre und war in unterschiedlichen Unternehmen tätig.

Nachdem mein Vater das Café Korb in Wien übernommen hatte, wurde sie Ende der 1950er-Jahre das, was man eine "g’standene Kaffeehausbesitzerin" nennt – das ist wohl unsere einzige Gemeinsamkeit. Unser Verhältnis war ein sehr angespanntes, die Frequenzen dieser Spannungen hießen Zurückweisung und Anweisung.

Man könnte auch von einer kybernetischen Beziehung sprechen, nach dem Motto "Communication, Command, Control". Es gab keine Ähnlichkeiten zwischen uns, nur Kontraste. Im Gegensatz dazu hatte ich zu meinem Vater eine wundervolle Beziehung. Er liebte mich, ich liebte ihn. Er war mein Schutzschild und meine Sonne.

Susanne Widl (76) arbeitete als Schauspielerin, Performancekünsterlin und Model. 2000 hat sie das Café Korb in Wien übernommen, wo sie 1972 ihren Lebenspartner, den Künstler Peter Weibel, traf.
Foto: PID / Georg Oberweger

Ich denke, das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter ist oft ein kompensatorisches, zwanghaftes. Einerseits möchte die Mutter, dass die Tochter erreicht, was ihr selbst versagt blieb. Deswegen wollte meine Mutter mich immer mit reicheren und älteren Männern verkuppeln.

Auch wenn meine Partner gelegentlich berühmte Schauspieler oder Fotografen waren, lehnte sie alle ab. Künstlern gegenüber nahm sie eine besonders skeptische Haltung ein. Am meisten hat sie meinen Lebensmenschen Peter Weibel abgelehnt. Als wir uns kennenlernten und er uns in der Wohnung besuchte, drohte meine Mutter, die Polizei zu rufen, wenn er nicht sofort die Wohnung verlassen würde.

Gleichzeitig steht dieses Kompensatorische auch für eine Quelle der Enttäuschung über das Leben. Das führt zu Rachegefühlen. Die Tochter, das Produkt der Ehe ist schuld, dass es im Leben nicht so gelaufen ist, wie sie es sich erhofft hatte.

Schlaganfall

Als mein Vater mit 62 starb, blieb ich das einzige Objekt, an dem sie Rache üben konnte. Es ging so weit, dass sie mich sogar enterben wollte, obwohl ich sie zwei Jahre nach ihrem Schlaganfall gepflegt habe und dafür meine internationale Model- und Schauspielkarriere in New York aufgegeben hatte. Ich habe ihr langsam wieder beigebracht, annähernd sprechen zu können.

Hinter meinem Rücken hat sie meinem Bruder nach Australien geschrieben und ihn gebeten, das Café Korb zu übernehmen. Mich könne man auf die Straße setzen, meinte sie. Ich habe diese Briefe erst nach ihrem Tod gefunden. Als meine Mutter im Jahr 2000 verstarb, konnte ich das Café Korb übernehmen, neu gestalten und ausrichten.

Mein Leben als Künstlerin und Geschäftsfrau, noch dazu als Partnerin eines global umtriebigen Künstlers, Peter Weibel, hat die Frage nach einem eigenen Kind nicht wirklich auftauchen lassen, was ich nicht bereue. Wenn ich sehe, wie viele Eltern oder alleinerziehende Mütter am Schicksal ihrer Kinder scheitern, fühle ich sehr stark mit diesen Eltern.

Familientreffen

Außerdem erfülle ich eine Art Mutterrolle im Café Korb, ich bin zuständig für das Wohl meiner Gäste und Mitarbeiter. Wir sind für viele Besucher "ihr" Stammcafé. Das Café Korb versteht sich im weitesten Sinne als ein Familientreffen. Ich habe hier übrigens mit Elfriede Jelinek und Elfriede Gerstl oft über unsere Beziehungen zu unseren Müttern gesprochen. Es ging dabei hauptsächlich um die gestörten Beziehungen. Die Jelinek hat sich fallweise Notizen gemacht und das eine oder andere in ihrem Roman Die Klavierspielerin verwendet.

Die letzte Erinnerung an meine Mutter bezieht sich auf den Tag vor ihrem Tod im Krankenhaus mit 87 Jahren. Sie ließ sie sich noch den Friseur und die Maniküre kommen. Unvergesslich bleiben für mich ihre strahlend hellblauen Augen. Manchmal besuche ich sie an ihrem Grab, denn ich halte mich an die Gebetsstelle: "Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern." Ich habe meiner Mutter verziehen.

Achtung, Anerkennung und Ehre seien ihr gegönnt. Sie hatte es wahrscheinlich auch nicht leicht, und vielleicht gibt es Gründe in ihrem Leben, die ich nicht kenne, die letztendlich für ihre charakterlichen Defizite ausschlaggebend waren. (Michael Hausenblas, RONDO, 8.5.2020)