Obwohl Schweden der eigenen Wirtschaft keine Zwangspause verordnet hat, erwarten Experten einen drastischen Anstieg der Arbeitslosigkeit. Der Autohersteller Volvo hat Ende April etwa angekündigt, 1.300 Stellen im Land zu streichen.

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Der schwedische Weg durch die Corona-Pandemie ist ein eigener. Aber es kann keine Rede davon sein, dass in Schweden alles seinen gewohnten Lauf nimmt. "Normalerweise sind 70 Leute im Büro, jetzt sitze ich mit zwei Kollegen allein hier", erzählt Erik Spector, Leiter der Konjunkturforschung am Nationalen Institut für Wirtschaftsforschung in Stockholm. Binnen weniger Wochen musste sein Team die Prognosen für die schwedische Wirtschaft massiv nach unten korrigieren. Vor der Krise erwarteten sich die Forscher ein Wachstum von 1,7 Prozent.

Noch Anfang April rechneten die Ökonomen damit, dass die Wirtschaftsleistung heuer nur um drei Prozent einbricht. Inzwischen sieht es nach einem Minus von sieben Prozent aus – damit wäre die Rezession in Schweden in etwa so tief wie in Österreich. Wie kann das sein, wo doch alle Welt Schweden als Feldexperiment betrachtet, bei dem das wirtschaftliche und soziale Leben als Reaktion auf die Pandemie im Vergleich zu anderen Ländern kaum eingeschränkt wurde?

Mitgehangen, mitgefangen

Schweden ist so wie Österreich eine kleine offene Volkswirtschaft, die stark vom Außenhandel abhängig ist, erklärt Spector. "Durch die Krise ist nicht nur die Nachfrage nach unseren Produkten eingebrochen, den Fabriken fehlten auch wichtige Bauteile." Als China in den Shutdown ging, brachen wesentliche Lieferketten für die Industrie zusammen. Der Autobauer Volvo etwa hat seine Mitarbeiter in Kurzarbeit geschickt und seine Fabrik nahe Göteborg für einen Monat zugesperrt. Außerdem trennte sich der Konzern von 1.300 Büromitarbeitern.

Ein Blick auf die wichtigsten Handelspartner Schwedens zeigt, dass allen eine vergleichbar schwere Rezession bevorsteht. Mitgehangen, mitgefangen gilt für Schwedens Wirtschaft unabhängig von heimischen Einschränkungen.

Die enge Verflechtung mit dem Ausland ist aber nur ein Aspekt. Müssten die Schweden nicht von ihrem weniger restriktiven Ansatz, die Wirtschaft nicht per Gesetz herunterzufahren, profitieren? Immerhin dürfen Geschäfte, Restaurants und Hotels mit kleinen Einschränkungen so weitermachen wie früher.

"Die Behörden haben kaum Einschränkungen des öffentlichen Lebens verordnet, aber es gibt eine Menge Empfehlungen der Gesundheitsexperten", sagt Spector. "Diese werden von vielen Menschen befolgt." Etliche Restaurants hätten geschlossen, Umsätze in der Hotellerie seien rund 95 Prozent eingebrochen, und kaum jemand würde noch verreisen, schildert der Ökonom. Der Dienstleistungssektor sei dadurch hart getroffen.

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Der bekannteste Gesundheitsexperte Schwedens ist wohl Anders Tegnell. Der Staatsepidemiologe hat dem skandinavischen Land einen Sonderweg vorgezeichnet: Freiwilliges Disctancing statt Lockdown.
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Nicht zum Einkaufen aufgelegt

Die Konjunkturforscher rechnen damit, dass die Schweden im laufenden Jahr um drei Prozent weniger konsumieren werden. Das entspricht laut dem Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo) dem heurigen Konsumverzicht der Österreicher, die vermeintlich strikte Ausgangsbeschränkungen erlebten und – wenn sie das Haus verließen – vor allem an behördlich geschlossenen Läden und Gasthäusern vorbeijoggen mussten. Ob das Geschäft wegbricht, weil die Leute zu Hause bleiben müssen oder weil sie dies freiwillig tun, spielt wirtschaftlich letztlich keine Rolle.

Weil die schwedischen Konsumenten sich selbst einschränken, versiegten auch die Investitionen der Unternehmen. Statt sich für die Zukunft zu wappnen, mussten viele Firmen Mitarbeiter entlassen. Die Arbeitslosenrate soll, je nach Prognose, im skandinavischen Land heuer auf rund zehn Prozent klettern. Laut EU-Prognose wird sich die Arbeitslosigkeit auch 2021 nur auf 9,3 Prozent verringern. Das ist fast doppelt so hoch wie die für Österreich erwarteten fünf bis sechs Prozent, nach EU-Definition.

Am Mittwoch hat die EU-Kommission ihre Frühjahrsprognose für die Mitgliedsstaaten veröffentlicht. Schwedens Arbeitslosenrate dürfte heuer demnach überdurchschnittlich stark ansteigen.
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"Schweden hatte schon vor der Krise eine hohe Arbeitslosigkeit", sagt Spector. Konkret: 2019 lag sie bei 6,8 Prozent. Der Grund ist laut Spector auch, dass ein breiter Teil der Gesellschaft am Erwerbsleben teilnimmt. Jugendliche, die Ferialjobs machen, sind genauso arbeitslosenversichert wie ältere Menschen, die im fließenden Übergang in die Pension noch am Arbeitsmarkt mitwirken. Der Anteil der Menschen in einer Volkswirtschaft, die entweder arbeiten oder eine Stelle suchen, nennen Ökonomen Erwerbsquote. Mit 83 Prozent hat Schweden die höchste Erwerbsquote in der EU, Österreich liegt mit zuletzt 77 Prozent im guten Mittelfeld.

Hohe Erwerbsquote, viele Arbeitslose

Wenn in einem Land wie Schweden viele Menschen am Arbeitsmarkt teilnehmen, führt eine Wirtschaftskrise, die kaum einen Sektor auslässt, zu mehr Arbeitslosen. Der Vorteil einer hohen Erwerbsquote ist, dass weniger Menschen von öffentlichen oder privaten Transfers leben, sondern im Gegenteil die Staatseinnahmen durch Steuern und Abgaben erhöht werden.

Entsprechend weniger Schulden musste Schweden in den vergangenen Jahren aufnehmen, sie belaufen sich auf 35 Prozent der Wirtschaftsleistung. "Wir erwarten, dass die Verschuldung wegen der Krise auf etwa 45 Prozent klettert", bedauert Spector. In Österreich lag die Schuldenquote zuletzt bei 70 Prozent, krisenbedingt soll sie laut Wifo im kommenden Jahr auf über 80 Prozent steigen. Der finanzielle Spielraum ist wichtig. Denn Stockholm nimmt rund 20 Milliarden Euro in die Hand, um Kurzarbeit und andere Förderungen für schwedische Unternehmen und deren Mitarbeiter zu finanzieren. Auch in dieser Hinsicht unterscheidet sich das skandinavische Land nicht von Österreich.

Auch in Schweden werden Menschen darauf hingewiesen, dass Distanz vor Infektionen schützt.
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Kein Vorbild

Aus wirtschaftlicher Sicht ist Schweden keinen Sonderweg in der Corona-Krise gegangen. Wer glaubt, die Länder mit strikten Lockdowns hätten ihrer Wirtschaft unnötig geschadet, kann sich an dem nordischen Land kein Vorbild nehmen. Zu eng sind moderne Volkswirtschaften verflochten, als dass man einer weltweiten Krise entkommen könnte. Und wenn die Bevölkerung freiwillig auf Kinobesuche, Urlaube und Cocktails verzichtet, leiden Dienstleister wie unter einem echten Lockdown.

Offen ist die Frage, wie Schwedens Wirtschaft dastehen würde, wenn es tatsächlich zur zweiten Welle der Corona-Pandemie kommen sollte und die wichtigsten Handelspartner der Skandinavier ihre Länder womöglich erneut herunterfahren. Ob sich der schwedische Weg mittelfristig auch wirtschaftlich auszahlt, ist kaum zu sagen. Zu viele Unbekannte spielen mit. Aber selbst wenn es Schweden bis dahin zur Herdenimmunität gebracht haben sollte: Eine globale Wirtschaftskrise würde das Land in jedem Fall zu spüren bekommen.

Klar ist, dass nur wenige Länder so viel finanziellen Spielraum haben wie Schweden, um die Wirtschaft wieder aus der Krise zu führen, ohne künftigen Generationen dafür die Rechnung zu hinterlassen. (Leopold Stefan, Aloysius Widmann, 7.5.2020)