Im Gastkommentar fordert der Historiker Peter Pirker, sich stärker mit der Täterseite zu befassen.

In Italien rief der Partisanenverband ANPI am 25. April, dem Tag der Befreiung Italiens, dazu auf, von jedem Balkon die Widerstandshymne Bella ciao zu singen, in Erinnerung an den Kampf gegen Faschismus und deutsche Besatzung und zur Mobilisierung einer gemeinsamen Anstrengung, die Corona-Pandemie zu bewältigen. In diesem Geiste will die Regierung Einwanderer legalisieren, um ihnen die Möglichkeit einer würdigen Existenz zu eröffnen.

Kein "Bella ciao"

Ein nationales Widerstandslied wie Bella ciao gibt es hierzulande nicht. In Österreich organisiert das Mauthausen-Komitee (MKÖ) heute ein virtuelles Fest der Freude in Erinnerung an die Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai. Die österreichische Erfahrung zum Ende des Nationalsozialismus bietet kaum positive Übertragungsmöglichkeiten auf die Gegenwart. Der Widerstand blieb – mit Ausnahmen – schwach.

Das "Fest der Freude" im Jahr 2019 fand noch auf dem Wiener Heldenplatz statt. Auch heuer wird gefeiert, Corona-bedingt aber im Internet.
Foto: APA / Harald Schneider

Was die Befreiungsfeiern des MKÖ so wichtig macht, ist ihre Internationalität. Letzteres wird durch den virtuellen Raum noch verstärkt. Wir werden Überlebende aus aller Welt hören, die in Österreich von Österreichern verfolgt wurden, wir werden von geglückter und gescheiterter Flucht hören, von Aufnahme und Hilfe trotz immenser Schwierigkeiten in den globalen Zufluchtsländern. Wir werden von Widerstand hören und von Befreiung, von Leistungen, die andere für Österreich erbracht haben. Wenn sich Österreicher heute darüber freuen können, so ist die Freude größtenteils geborgt. Denn hierzulande dominierte die Soldatenhymne Ich hatte einen Kameraden das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg.

Die grüne Nationalratsabgeordnete Eva Blimlinger erinnerte uns am 27. April an dieser Stelle an die Unabhängigkeitserklärung. Das war gut, denn sie ist das Gründungsdokument der Zweiten Republik. Zugleich ist Blimlinger zu widersprechen. Sie meint, dass die darin formulierte Opferthese, wonach die Österreicher allesamt Opfer Hitler-Deutschlands geworden seien, die Nationsbildung geprägt hat. Wäre es nur so gewesen! Dann hätte sich eine klare Abgrenzung zum Nationalsozialismus entwickeln können und wir würden heute nicht erst zum achten Mal den 8. Mai als Tag der Befreiung feiern, sondern zum 75. Mal. Tatsächlich wurde der 8. Mai nur 1946 einmal gemeinsam mit den Alliierten gefeiert. Denn die Veteranen der Wehrmacht wollten keine schwachen oder befreiten Opfer gewesen sein, die sich über den Sieg der Alliierten freuten. Jene, die sich als ihre Vertreter aufschwangen, wollten mehr ihre Pflichterfüllung und selbstlose Aufopferung gewürdigt sehen.

Rechtsextreme Veteranen

Rechtsextreme Veteranen waren 1950 die Ersten, die das unter dem Austrofaschismus errichtete und von den Nazis übernommene Heldendenkmal auf dem Heldenplatz wieder nutzten. Die ÖVP ließ Veteranenpolitiker des Austrofaschismus und ehemalige Wehrmachtsoffiziere den Österreichischen Kameradschaftsbund gründen, um sich die Hegemonie in der Veteranengesellschaft zu sichern.

Die SPÖ sah mit ihrer antifaschistischen Opferthese alt aus. Wenige Tage nach dem Abzug der Alliierten erklärte Verteidigungsminister Ferdinand Graf (ÖVP) das Heldendenkmal zum nationalen Denkmal und rief zu einem neuen Heldengedenken auf, 1965 verlangte ÖVP-Nationalratspräsident Alfred Maleta am ersten Nationalfeiertag im Parlament, die Aufopferungsleistungen der ehemaligen Soldaten und Nazis zum ideellen Bestandteil der Nation zu machen.

Die mentale und in vielen Bereichen realisierte Koalition (z. B. Unis, Heer, Bürokratie) aus früheren Austrofaschisten und Nationalsozialisten wurde zur Basis einer ziemlich autoritären Demokratie, die Bruno Kreisky (SPÖ) dann zwar zur Modernisierung nutzte, deren geschichtspolitisches Appeasement er aber nicht angriff. Dieser Autoritarismus war die Grundlage für den Wahlsieg Kurt Waldheims bei der Präsidentschaftswahl 1986 und den Aufstieg Jörg Haiders.

Mit Täterseite befassen

Die Theorie vom Opfermythos verstellt nicht nur den Blick auf die postfaschistischen und postnazistischen Kontinuitäten. Das Bekenntnis, dass sich die Österreicher lange zu Unrecht als Opfer dargestellt hätten, dient heute als bequemer Ausweis dafür, aus der Geschichte gelernt zu haben und der tatsächlichen Opfer zu gedenken: Die Regierung will ein weiteres großes Denkmal für die Opfer der Shoah errichten. Erinnerungspolitik ist jedoch nicht bloß daran zu messen, wie der Opfer vergangener Verbrechen rituell gedacht wird, sondern daran, ob im politischen Handeln das aufgehoben ist, was man "sich erinnern" nennen kann. Erfreulich ist, dass die ÖVP wie nie zuvor in ihrer Geschichte dem Antisemitismus den Kampf ansagt und die Verbundenheit mit Israel betont. Kontraproduktiv ist die bisherige Strategie von ÖVP-Chef und Kanzler Sebastian Kurz, den Wohlfahrtschauvinismus und Nationalismus der FPÖ zu kopieren. Autoritäre Politik hat immer noch den Antisemitismus befördert.

Österreich war bis in die 1990er-Jahre hinein das einzige Land in Europa, in dem ein vom Staat massiv geförderter Zentralverband von Wehrmachtsveteranen oder Kollaborateuren der Wehrmacht zu einem Träger des nationalen Gedächtnisses werden konnte. Dieses zentrale postnazistische Merkmal war viel stärker als die Opferthese. Es ist bis heute präsent. Wer im Sinne des 8. Mai erinnerungspolitisch tätig sein will, sollte nicht ein weiteres Shoah-Denkmal bauen, sondern sich mit der Täterseite und ihren Gedächtnisformen befassen. Doch hier wehren sich die Institutionen: Bunkern beim Heeresgeschichtlichen Museum, Klammern an das Heldendenkmal, Festhalten an nach Wehrmachtsgenerälen benannten Kasernen – und nach wie vor gibt es keinen Ort der Aufklärung über die Täter der Shoah in Wien. (Peter Pirker, 8.5.2020)