Foto: APA/dpa/Christophe Gateau

2016 wäre es fast geglückt: Die WHO hatte sich vorgenommen, nach den Pocken auch Kinderlähmung faktisch vollständig auszurotten, und erzielte dabei bemerkenswerte Fortschritte. Sogar inmitten der Wirren des syrischen Bürgerkriegs waren Hilfswerke willens und in der Lage, Millionen von Kindern gegen Poliomyelitis zu immunisieren.

Aber es gelang nicht. Nicht nur weil die IS-Hochburgen für die Hilfskräfte unzugänglich waren und sich die Wucht des Krieges immer weiter steigerte, sondern auch weil die Schutzimpfungen zu häufig als Vereinnahmungsversuch und Lüge des Westens angesehen wurden. In Afghanistan und Pakistan behaupteten die Taliban, die Impfungen seien ein Versuch, Muslime unfruchtbar zu machen und mit HIV zu infizieren. Man verdächtigte das medizinische Personal, für den Westen zu spionieren, und schreckte nicht einmal vor Selbstmordanschlägen auf Impfzentren zurück.

Verschwörungstheorien über Impfungen

Obwohl islamische Rechtsgelehrte immer wieder darauf hinwiesen, dass Impfungen nicht nur glaubenskonform, sondern sogar geboten sind, hielten zu viele an ihrem Irrglauben fest. Zu verführerisch war es augenscheinlich, der Wirkmächtigkeit von Verschwörungstheorien zu erliegen, statt auf die Wirkungskraft von Schutzimpfungen zu setzen. Und auch 2020 verfängt die Mär von bösen Kräften, die uns über Impfungen manipulieren wollen. Bezeichnenderweise scheinen vor allem Männer dafür anfällig zu sein. In Deutschland tun sich diesbezüglich vor allem der Sänger Xavier Naidoo und der Vegankoch Attila Hildmann hervor. Flankiert werden sie dabei von Weggefährten und Sympathisanten wie dem Schauspieler Til Schweiger oder dem Fitnesscoach Detlef Soost, die zwar beide noch weitsichtig genug sind, keine eigenen Verschwörungstheorien in die Welt zu setzen, aber denen das "kritische Nachfragen" von Hildmann, Naidoo und anderen gut zu gefallen scheint. Über den Inhalt dieser "Nachfragen" konnte man sich kürzlich auf einer von Hildmann initiierten Demonstration informieren, während der er die Einsatzkräfte der Polizei darüber informierte, dass Bill Gates ein "Eugeniker" sei, der "die Weltbevölkerung dezimieren will".

Um Sie auf den gleichen Stand wie Hildmann und Konsorten zu bringen: Bill Gates hat das Virus künstlich schaffen oder seine Existenz weltweit behaupten lassen, um in der momentanen Situation möglichst viele Menschen mittels eines angeblichen Impfstoffs zu "chippen". Wir sollen also alle per Nanosonden überwacht werden. Ich bin nicht der Erste, der doch – gelinde gesagt – eher erstaunt darüber ist, dass dieser Vorwurf ausgerechnet auf Gates zielt. Der Mann warnt seit Jahren die Öffentlichkeit vor globalen Pandemien und schüttet über die Bill-&-Melinda-Gates-Stiftung Milliarden aus, um genau das zu verhindern. Dass er dabei teilweise nur "den kurzen Dienstweg" nutzt und auf persönliche Kontakte setzt, ist durchaus kritikwürdig. Aber die Vorstellung, ein Multimilliardär mit einem weltumspannenden Stiftungsnetz ginge bei der Durchsetzung seiner Ziele so dilettantisch vor, dass ihm jeder noch so geistig unbeschenkte Internetaluhutträger dabei auf die Schliche kommt, ist doch einigermaßen absurd. Trotzdem haben Verschwörungstheorien gerade massiv Zulauf.

Geht es um Ohnmacht? Um Bedeutungsverlust?

Nicht nur das wird an Beispielen wie der erwähnten Demonstration deutlich. Sie zeigen darüber hinaus, dass zwar auch Frauen Aluhüte tragen, etwas von "BRD-GmbH-Personal" faseln und sich "im Widerstand befinden" können, es dabei aber vor allem um Männer geht. Warum ist das so, wieso scheinen Männer dafür anfälliger zu sein? Möglicherweise findet sich die Antwort darauf bei Hildmann selbst, der die Polizei wissen lässt, er sei "bereit, für sein Land zu sterben". Was, wenn es bei Verschwörungstheorien eigentlich um Ohnmacht und Bedeutungsverlust geht? Was, wenn Hildmann nur deshalb den martialischen Freitod fürs Vaterland heraufbeschwört, weil er weiß, dass er und seine Anliegen niemanden wirklich interessieren? Was, wenn sein Kumpel Naidoo seine Gefolgschaft nur deshalb wissen lässt, dass er jetzt "Atlantis sucht" oder Tränen über Kinder vergießt, denen angeblich irgendwelche geheime Mächte unter Folter das Stoffwechselprodukt Adrenochrom entnehmen, weil er eigentlich sehr informationsresistent ist und trotz seiner beträchtlichen Prominenz den Bedeutungsverlust fürchtet?

Das hieße, dass diejenigen, die der "schlafenden Menge" vorwerfen, Schafe zu sein, ihr eigenes Blöken nicht hören. Es hieße auch, und genau das steht zu befürchten, dass ihnen mit Logik und Gegenargumenten nicht beizukommen ist, weil jeder Satz und jedes Ereignis auf ihre Verschwörungstheorie einzahlt. Eines der bedeutendsten Merkmale einer faktenbasierten Weltanschauung ist die Tatsache, dass sie jederzeit benennen kann, was es bräuchte, um vom Gegenteil überzeugt zu werden. Wir könnten uns hier und jetzt auf der Stelle darüber verständigen, was uns belegen würde, dass Eugeniker-Bill uns alle chippen will. Die Gegenseite kann das nicht.

Kränkungen der Männlichkeit

Jede Aussage, jedes Ereignis wird in die Weltanschauung integriert. Es gibt keine äußere Wirklichkeit mehr, nur noch ein Nichtwissen der anderen. Deswegen lassen sich Verschwörungstheorien auch nicht auf der inhaltlichen Ebene bekämpfen, sondern, wenn überhaupt, nur sehr viel früher an ganz anderer Stelle. Bei dem, was der österreichische Psychiater Reinhard Haller "die Macht der Kränkung" nennt. Denn es scheint, es gebe nicht nur die von Freud geprägten "Kränkungen der Menschheit", sondern auch sehr folgenreiche Kränkungen der Männlichkeit. Kränkungen, die ihre Träger deshalb so tief verwunden, weil sie von Anfang an glauben gemacht werden, sie hätten einen Anspruch auf Macht, Autorität, Erfolg, Gehorsam, Hörigkeit, Bewunderung und Gefolgschaft. Man könnte meinen, es handle sich dabei um eine Verschwörung. Aber ich lasse mich von Ihnen gerne vom Gegenteil überzeugen. (Nils Pickert, 9.5.2020)