Ein Spielplatz in der Siedlung am ehemaligen KZ-Gelände Gusen. Nicht weit von hier wurden einst Kinder von den SS-Schergen auf bestialische Weise ermordet.

foto: thomas neuhold

Es sind diese Bilder, die einem nie wieder aus dem Kopf gehen wollen: verhungerte Gestalten in zerschlissener Häftlingskleidung, die kahlgeschorenen Köpfe mit den tiefliegenden Augen voll des erlebten Grauens. Es sind auch die Eindrücke der Appellplätze, der Verladerampen, der Baracken hinter Stacheldraht, die die Gedenkstätten in den ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslagern so unsagbar bedrückend machen.

"Vernichtung durch Arbeit"

Von all dem ist im ehemaligen Konzentrationslagerkomplex Gusen nichts mehr zu sehen. Dabei waren in den insgesamt drei Lagern östlich von Linz zeitweise bis zu doppelt so viele Menschen gefangen wie im wenige Kilometer entfernten Stammlager Mauthausen. Hier befanden sich in von den Gefangenen in den Berg getriebenen unterirdischen Stollen gewaltige Rüstungsanlagen, über deren tatsächliches Ausmaß zuletzt 2019 wilde Spekulationen aufgetaucht waren. "Vernichtung durch Arbeit" war das Prinzip der NS-Schergen in Gusen. Etwa 45.000 Opfer sind dokumentiert.

Ein- und Mehrfamilienhaussiedlung

Heute ist das Lagergelände eine biedere Ein- und Mehrfamilienhaussiedlung, wie es sie in Österreich tausendfach gibt. Etwa 800 Menschen leben hier. Auch einige ehemalige Lagerbauten sind zu Wohnhäusern umgebaut worden. Nur wenig erinnert noch an das am 5. Mai 1945 befreite KZ. Ein kleines Memorial aus Sichtbeton rund um den Krematoriumsofen, ein 2004 erbautes Besucherzentrum, ein alter Bahndamm, ein unscheinbares Denkmal nahe der ehemaligen Verladerampe, eine von Häftlingen erbaute Brücke und der verschlossene Eingang in das Stollensystem der einstigen NS-Rüstungsproduktion.

Zuletzt hatte Polen mehrfach Interesse am Kauf der "Überreste" des früheren Konzentrationslagers gezeigt. Unter den Opfern waren besonders viele polnische Staatsbürger. Die Bundesregierung hielt unterdessen in ihrem Regierungsprogramm fest, die Gedenkstätte selbst erwerben zu wollen. Ein Konzept für eine adäquate Gedenkstätte gibt es freilich nicht.

Hören, was nicht sichtbar ist

Wie man sich dem Horror der Naziverbrechen in der überbauten KZ-Anlage mitten im Wohngebiet nähern und so einen historisch korrekten, aber auch dem Geschehen angemessenen Raum für eine "virtuelle Gedenkkultur" schaffen kann, zeigt auf höchst eindrucksvolle Weise der Audioweg Gusen.

Rund eineinhalb Stunden ist man auf dem Weg durch die ehemaligen Lagerteile Gusen I und II unterwegs. Ausgestattet mit einem iPod und Kopfhörern werden Besucher und Besucherinnen von einer Erzählerin durch die Siedlung geleitet. Markierungen am Boden oder auf Masten und Bäumen gibt es keine.

Kinde in Säcke verpackt ermordet

Zwischen Wegbeschreibungen und historischen Erklärungen der Erzählerin berichten KZ-Überlebende von den Gräueln im Lager, kommen ehemalige KZ-Wächter zu Wort und berichten Anrainer, wie es ist, auf blutgetränktem Boden zu leben. Der Weg führt vom ehemaligen Krematorium über das Lagertor und die Reste des Appellplatzes zu einem flachen Wohnhaus mit Granitsäulen am Eingang. Das war das Lagerbordell. Im Ohr die heutigen Bewohner: Sie erzählen, wie sie die kleinen Kojen herausgerissen und das Haus umgebaut haben.

Weiter geht es vorbei an steril geschotterten Vorgärten und kleinen Kinderspielplätzen, vorbei an der ehemaligen Krankenbaracke. Hier seien Kinder in Säcken verpackt gegen die Wand geschmissen worden, bis Blut aus den Säcken geronnen sei, sagt an dieser Stelle eine Zeitzeugin im Kopfhörer. Ein unerträgliches Bild. Zuletzt gelangt man über die Reste des Bahndammes der alten Schleppbahn an der längst verschwundenen Verladerampe zu den verschlossenen Rüstungsstollen im Berg.

Rund zwei Jahre hat der in St. Georgen an der Gusen aufgewachsene, heute in Berlin lebende Künstler Christoph Mayer in den 2007 eröffneten Audioweg investiert. Mit seinem Projekt, mit den 25 Stimmen von Opfern, Tätern und Anwohnern wird das "vergessene" KZ wieder sichtbar – auch wenn es keine Wachtürme, Zäune, Baracken mehr gibt. (Thomas Neuhold, 8.5.2020)