Der Berliner Reichstag war nach der Kapitulation der Stadt zerstört. Unweit des Gebäudes, im Führerbunker, hatte sich Hitler am 30. April 1945 erschossen, die Schlacht um Berlin dauerte bis zum 2. Mai.

STANDARD: Die Corona-Krise überschattet auch die Gedenkfeiern zum 75. Jahrestags des Kriegsendes. Bedauern Sie das?

Bauerkämper: Ja, das besorgt mich. Wir haben ja schon gesehen, dass die Gedenkfeiern zur Befreiung von Konzentrationslagern nur in sehr kleinem Rahmen stattfinden konnten und dass dies in den Nachrichten stark unterging.

STANDARD: Warum wäre ein größerer Rahmen, auch das abgesagte Treffen der Staats- und Regierungschefs, wichtig?

Bauerkämper: Weil sie auf allgemeiner Ebene daran erinnern, was Menschen anderen Menschen antun können, und im besonderen natürlich, was im Nationalsozialismus geschah. Wir sollten immer wieder daran erinnern, dass die Firnis der Zivilisation dünn ist und auch moderne Gesellschaften nicht vor Rissen gefeit sind.

Arnd Bauerkämper (61) ist Professor für Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin. Zu seinen Schwerpunkten zählen Faschismus in Europa und die Sozialgeschichte Deutschlands.
Foto: Bernd Wannenmacher

STANDARD: Sehen Sie die Gefahr in der aktuellen Situation?

Bauerkämper: Das Ansteigen der Denunziation besorgt mich. Ich lebe im Osnabrücker Land (Niedersachsen, Anm.), da gingen an Ostern hunderte Anrufe bei der Polizei ein, weil die Menschen angeblich verbotenerweise Osterfeuer angezündet hätten. Dabei taten sie das gar nicht, sondern hatten nur ein erlaubtes Feuer in der Feuerschale. Dennoch wurden sie von Nachbarn angeschwärzt. Grundsätzlich hat die Demokratie in Deutschland ja viele Sicherungen institutioneller Art, beispielsweise unsere Verfassung. Aber es kommt schon auch darauf an, was die Menschen daraus machen.

STANDARD: Das war nach Kriegsende nicht sofort so.

Bauerkämper: Als die Bundesrepublik 1949 gegründet wurde, waren viele unsicher – auch aufgrund der Erfahrungen aus der Weimarer Republik –, wie lange sie stabil bleiben könnte. Aber dann haben der Wirtschaftsaufschwung als auch die Politik denjenigen Möglichkeiten gegeben, die eigentlich nicht als Demokraten geboren waren und im Nationalsozialismus mitgemacht oder ihn sogar unterstützt hatten.

STANDARD: Welche Kräfte waren zunächst stark?

Bauerkämper: Manche wollten nach 1945 zurück zu einem autoritären monarchistischen System. Und es gab noch sehr viele Anhänger, die den Nationalsozialismus mit seiner "Volksgemeinschaft" grundsätzlich für eine gute Idee hielten, die angeblich nur schlecht ausgeführt worden war. Den Krieg und den Massenmord an dem Juden sahen viele zwar als Fehler an, aber die Autobahnen und die zunächst niedrige Arbeitslosigkeit waren in guter Erinnerung.

STANDARD: Wie änderte sich das?

Bauerkämper: Deutschland machte mehrere Phasen durch. Als in den Nürnberger Prozessen die NS-Führung vor Gericht stand, neigte die Mehrheit in Deutschland, aber auch in Österreich dazu, ihnen die Hauptverantwortung aufzuerlegen und sich selbst freizusprechen. Damit schien vielen das Problem erledigt; dies dauerte bis in die 50er-Jahre hinein. Erst dann kam langsam die Erkenntnis, dass sehr viele "normale" Deutsche, zum Teil enthusiastisch, mitgemacht hatten.

STANDARD: Wie stark trug das Jahr 1968 zur Aufarbeitung mit?

Bauerkämper: Rund um dieses Jahr wurde ein erheblicher Beitrag geleistet, denn die Kinder, die im Krieg nicht direkt belastet waren, fragten ihre Eltern, wo sie von 1933 bis 1945 gewesen waren und was sie getan hatten. Aber die Aufarbeitung begann schon früher, ab 1958 mit dem Ulmer Einsatzgruppenprozess und dann mit dem Frankfurter Auschwitz-Prozess von 1963 bis 1965. Da brach die bequeme Meinung auf, dass nur die NS-Führung Verantwortung getragen hatte und schuldig war. Das war die prägende Lebenslüge der jungen Bundesrepublik gewesen, die sich in Resten sogar bis in die Achtziger Jahre hielt.

STANDARD: Heute will die AfD einen Schlussstrich ziehen, ihr Ehrenvorsitzender Alexander Gauland spricht von der NS-Zeit bloß als "Vogelschiss der Geschichte".

Bauerkämper: Es ist beides unmöglich und auch überhaupt nicht angemessen und ratsam. Die Zeit des Nationalsozialismus umfasst eine Zeitspanne von zwölf Jahren. Aber man kann von einer relativ geringen Dauer nicht auf die Bedeutung schließen. Außerdem dürfen die Deutschen nie einen Schlussstrich ziehen und erklären, dass die NS-Vergangenheit bewältigt ist. Wir können nicht abschließen, wir müssen immer wieder, unter neuen Aspekten der Gegenwart, auf diese Zeit blicken. Das zeigte sich auch bei der verstärkten Zuwanderung von Flüchtlingen ab 2015.

STANDARD: Was meinen Sie damit?

Bauerkämper: Es sollte unser Bewusstsein schärfen, dass die Ausgrenzung von Minderheiten mit fremdenfeindlichen Vorurteilen beginnt. Eine historische Betrachtung des Nationalsozialismus setzt doch bestimmte Warnzeichen, die wir beachten sollten.

STANDARD: Das gilt wohl auch für andere Bereiche?

Bauerkämper: Wir müssen in der aktuellen Krise immer schauen, ob bei den gravierenden Einschränkungen von Grundrechten wie Religions-, Versammlungs- und Reisefreiheit oder auch der Einschränkung der ökonomischen Freiheit die Mittel noch verhältnismäßig sind. Das muss permanent auf den Prüfstand, Demokratie muss immer diskutiert werden, sie ist stets im Fluss.

STANDARD: Sehen Sie die Gefahr, dass die Deutschen zu viel mit sich machen lassen?

Bauerkämper: Nein. Zustände wie in Ungarn halte ich für unmöglich in Deutschland und auch in Österreich. In Budapest kann Viktor Orbán ohne das Parlament regieren. Das würden wir in Deutschland Ermächtigungsgesetz nennen, so etwas steht am Anfang einer Diktatur. Aber aufpassen müssen auch wir immer. (Birgit Baumann, 8.5.2020)