Stockholm, 11. Dezember 1966: die in Deutschland geborene, seit langem in Schweden lebende Nelly Sachs im Kreis der Nobelpreisgewinner.

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Er hieß Eli, der Hirtenjunge, der von einem Soldaten mit dem Gewehrkolben erschlagen wurde. Er lebte in einer zerstörten polnischen Kleinstadt, in der sich in der "Zeit nach dem Martyrium" die Überlebenden der jüdischen Gemeinde treffen. Eli war damals, nur mit einem Hemd bekleidet, seinen Eltern nachgelaufen, die von den Soldaten zur Liquidierung abgeholt wurden. Sein Mörder war auf den Jungen aufmerksam geworden, der laut auf seiner Hirtenflöte blies.

Vor den Mauern der alten Stadt will die jüdische Gemeinde später eine neue Stadt errichten. Von der Alten war nur das Haus des Schusters Michael unversehrt geblieben. Der fühlt sich jetzt berufen, den Mörder des Hirtenjungen ausfindig zu machen. Als er ihn im Nachbarland aufspürt, zerfällt der Mann vor dem "Gottesglanz" auf Michaels Stirn zu Staub. Zur gleichen Zeit stirbt aber auch das Kind des Mannes. Auch dieses Kind ein Opfer seiner Unschuld.

Schikanen und Erpressung

Eli. Ein Mysterienspiel vom Leiden Israels steht im Zentrum der szenischen Dichtung von Nelly Sachs, der im Mai 1940 mit ihrer Mutter mit dem letzten Flugzeug aus Berlin die Flucht nach Stockholm gelungen war. Für die junge jüdische Dichterin war in Hitlers Deutschland kein Platz mehr. Schikanen und Erpressung, ständige Bedrohung und Überwachung, die Furcht vor dem Konzentrationslager, in dem viele aus ihrer Familie ermordet wurden.

Als junges Mädchen schwärmt sie für Selma Lagerlöf. Die ersten Gedichte, Legenden und Puppenspiele, die sie schreibt, sind an das Vorbild der großen Erzählerin angelehnt. Die kommenden Jahre im Exil sind durch wirtschaftliche Not und den Überlebenskampf geprägt, den Nelly Sachs und ihre Mutter ohne die Unterstützung aus einem kleineren Freundeskreis vermutlich verloren hätten.

Erst nach sieben Jahren wird ihnen eine größere Wohnung zugeteilt, in der Nelly Sachs bis zu ihrem Tod lebt. Die aus einem großbürgerlichen jüdischen Elternhaus stammende Dichterin war eine der ersten Schriftstellerinnen, die ihre Poesie dem Schicksal der verfolgten Juden widmete. Und sie war neben der mit ihr korrespondierenden Marie Luise Kaschnitz die einzige Lyrikerin, die in erschütternden Visionen das Geschehene beschwor.

Verfolgung und Schmerz

Sie schrieb, um zu überleben, bezog ihre Kraft vor allem aus der lebenslangen Liebe zu dem 1943 ermordeten "Bräutigam", den sie noch in ihren letzten Gedichten mit "Du" anspricht. Adornos Diktum, nach Auschwitz sei es nicht mehr möglich, ein Gedicht zu schreiben, wird von Nelly Sachs durch ihre Lyrik widerlegt.

So urteilte Hans Magnus Enzensberger: "Ihrer Sprache wohnt etwas Rettendes inne. Indem sie spricht, gibt sie uns selber zurück, Satz um Satz, was wir zu verlieren drohten: Sprache." Ihre geistesgeschichtlichen Wurzeln liegen im Chassidismus, in alttestamentarischen Schriften und in der Mystik Jakob Böhmes.

Als ihre Mutter Anfang 1950 stirbt, findet sie Trost in Gershom Scholems Übersetzung des Schöpfungskapitels aus der mittelalterlichen Mystik. Ihre prophetische Lyrik ist ganz erfüllt vom Leid des jüdischen Volkes – von der Frage nach dem tieferen Sinn dieses Martyriums.

Verfolgung und Schmerz der europäischen Juden verbinden sich bei Nelly Sachs aber auch immer wieder mit ihrem persönlichen Schicksal. Die lange Zeit vergessene Dichterin wurde später durch Autoren wie Alfred Andersch und Paul Celan erneut in Erinnerung gerufen. Ihre an der Religiosität orientierte Weltsicht führte wahrscheinlich auch dazu, dass sie den Judenmord in einen größeren Zusammenhang sah und nie von Rache und Vergeltung sprach.

Nelly Sachs: Werke. Kommentierte Ausgabe Band 3, Szenische Dichtungen. Suhrkamp, 2011
Cover: Suhrkamp

Nobelpreis mit Josef Agnon

Als ihr 1966 in Stockholm zusammen mit Josef Agnon der Nobelpreis für Literatur verliehen wird, ist sie bereits von ihrer Krebserkrankung gezeichnet. Das erste von ihr veröffentlichte Gedicht beginnt mit den Worten:

"O die Schornsteine
Auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes. /
Als Israels Leib zog aufgelöst in Rauch /
Durch die Luft …
O die Schornsteine!
Freiheitswege für Jeremias und Hiobs Staub –"

Nelly Sachs, so hat es Walter Jens formuliert: "… das ist die Stimme Elis, Gegenstimme in der Welt des Schreckens, die Stimme einer Schwester Hiobs." (Wolf Scheller, 9.5.2020)